Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
heißer wurde. Zur Beruhigung griff er in seine Hosentasche und umklammerte die Türklinke. Das kühle Metall in seiner Hand verlieh ihm ein wenig Mut, und er sagte:
– Ja, also … Leider schließen wir dann, so leid es mir tut …
Die Frau blickte zu ihm auf. Der lesende Zeigefinger blieb mitten auf der Seite stehen.
– Schade, dass Sie nicht früher vorbeigekommen sind, sagte er. Ich meine, schade, weil das der letzte Tag ist … Aber ich vermute, dass die ganzen Notizbücher und Papiere bald wieder öffentlich zugänglich sein werden. Sicher sogar. Wie gesagt, der private Sammler hat …
Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust, obwohl ihr Finger immer noch im Buch steckte. Der junge Mann sah entschuldigend zur Zimmerdecke und zuckte mit den Schultern.
– Ich habe Ihnen alles gezeigt, sagte er. Aber leider …
Er deutete vage im Kreis herum, als wollte er sagen: die Umstände, die widrigen Umstände. Die Frau zog den Finger aus dem Buch, die Wunde der weißen Buchseiten verheilte sofort, und sie stellte das Werk zurück ins Regal. Da es auf einer Seite keine Nachbarbücher hatte, fiel es gleich wieder um.
– Natürlich nicht, sagte sie.
– Was?
– Natürlich nicht, wiederholte sie. Nicht alles.
Der junge Mann schaute sie so verständnislos an, wie es nur ging, aber er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Der Blick ließ seine Gesichtszüge schmelzen, und er begann zu weinen.
– Ich, ich …, schluchzte er und hielt sich eine Hand vors Gesicht, die angenehm nach dem Metall der Türklinke roch. Es ist doch nur … zu seinem eigenen …
Die Frau war ganz nahe an ihn herangekommen. Sie nahm sein bebendes Kinn zwischen zwei Finger. Er versuchte zu nicken, aber es ging nicht, sie hielt ihn fest.
Er knüllte das feuchte Taschentuch zusammen und steckte es ein. Er dachte an die vielen Tage, die er hier allein verbracht hatte, an die einsamen Jogaübungen auf dem Empfangstisch, mit denen die Zeit schneller verging.
Die Frau und er gingen jetzt durch den Raum mit der dahinvegetierenden Kaffeemaschine. Hier hingen einige Werkzeuge an den Wänden: Schraubenschlüssel, Hämmer, Drahtspulen und Sägeblätter in verschiedenen Größen, wie das bizarre Essgeschirr einer außerirdischenZivilisation. Am Ende des Raumes befand sich eine hohe, unbeschriftete Tür, die man für auf die Wand gemalt hätte halten können. Der Mann holte die Türklinke aus seiner Tasche und schraubte sie auf ein kleines, viereckiges Metallstück, das aus einem Loch in der Tür hervorstand. Vorsichtig betätigte er die Klinke, ein Klicken wie beim Brechen eines Wunschknöchelchens war zu hören, und ein dämmriges Zimmer lag vor ihm. Der Geruch von allerlei Menschlichem schlug ihm entgegen, und er atmete durch den Mund.
– Herr Setz?, rief er mit sehr leiser Stimme.
Im Halbdunkel regte sich eine Gestalt in einem großen, gelben Gitterbett, das unterhalb eines kreisrunden, mit weißen Ziegeln verbauten Fensters stand. In einer Ecke des Zimmers, an der Stelle, wo sonst bisweilen ein Kreuz hängt, befand sich ein kleiner Lampion, der ein lachendes Gesicht trug und von einer sehr schwachen Glühbirne mit melancholischem Licht ausgefüllt wurde. Sonst war der Raum über und über mit größtenteils beschädigten oder verbogenen Regenschirmen angefüllt. In einer Ecke plätscherte ein kleiner Zimmerbrunnen, der wie ein Strandabschnitt modelliert war, mit winzigen Umkleidekabinen und einem noch winzigeren Sonnenuntergang am fingerbreiten Horizont.
– Herr Setz, wiederholte der junge Mann. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir dann abschließen.
Ein Grunzen war zu hören, und eine Hand, die eine Füllfeder hielt, erhob sich aus dem Bett, fiel aber gleich wieder zurück auf die weiche, federnde Matratze.
– Maah, sagte die Gestalt sehr leise.
Es war die Stimme eines Greises. Das Bett knarrte. Der junge Mann fühlte sein Herz schlagen.
– Ich schalte dann das Meer am besten auch aus, Herr Setz, sagte er mit einem leichten Zittern in der Stimme und machte einen vorsichtigen Schritt in den Raum, in Richtung Zimmerbrunnen.
– Nein, lassen Sie ihm das Meer, sagte die Frau. Lassen Sie es eingeschaltet.
Und sie legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter.
– Maah, bestätigte die Gestalt im Bett.
Als die Tür geschlossen, der Hals des Schlüssels zweimal umgedreht und die schweißnasse Klinke abgepflückt war, gingen sie zurück. Die Frau schwebte auf ihren Turnschuhen dahin, streifte nirgendwo an und gab auch sonst kaum
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