Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Man sah das facettenreiche Auge einer Fruchtfliege, in der sich der Planet Erde Hunderte Male spiegelte.
Die Sendung über Selbstmassage wurde von einer Frau moderiert. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt und trug einen hautengen Gymnastikanzug. Riesentitten, stellte Monika fest und hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. Die erste Übung bestand aus einer sanften Massage der Nackenmuskulatur mit den Handballen.
– Diese Übung ist ideal, wenn Sie lange im Sitzen arbeiten und dabei Ihren Nacken strapazieren, sagte das Mädchen am Bildschirm.
Monika versuchte, die Übung genau so zu machen, wie es ihr vorgeführt wurde. Das Ergebnis war ein leichtes Schwindelgefühl.
– Auf keinen Fall zu fest zudrücken, sagte die Masseuse, als hätte sie Monikas Problem erraten.
Monika verringerte den Druck ihrer Handflächen, aber davon wurde es auch nicht besser. Die Übung schien ihre Verspannungen nur zu verschlimmern. Sie hörte auf und wartete, bis die nächste Übung begann. Bald verlor sie die Geduld und schaltete zurück auf den Musiksender. Ein Interview wurde geführt. Zwei lächelnde Männer auf einer schwarzen Couch, die ihre Mikrophone so lässig in der Hand hielten, als wären es Bierdosen, mit denen sie sich übergießen wollten. Wer der Star und wer der Moderator war, konnte sie zunächst nicht erkennen, dann hörte sie eine Weile zuund begriff. Gelangweilt kehrte sie zur Selbstmassage zurück.
Als die Sendung vorbei war, schaltete sie den Fernseher aus und ging zu ihrem CD-Regal. Lange ließ sie ihren Zeigefinger über die Bandnamen wandern, dann entschied sie sich für die CD, die sie ohnehin im Sinn gehabt hatte. Suzanne Vega, Monikas absolute Lieblingssängerin. Vor vielen Jahren hatte sie sie live erlebt und wusste bis heute, was sie an diesem schönen Tag angehabt hatte. Besonders mochte sie die A-capella-Version von Tom’s Diner . Mit diesem Lied ließ sich jeder noch so trübsinnige Morgen aufhellen, fand Monika, außerdem konnte es nicht schaden, einen Ohrwurm quasi auf Vorrat zu tanken; man wusste ja nie, welche albernen und quälenden Lieder sich während eines ganzen Tages im Gehirn verfangen würden.
Die kleine, simple Melodie war so elegant und anmutig, reizte beinahe zum Weiterdichten, ja, sie bekam jedes Mal Lust, alle sprachlichen Äußerungen des Tages in dieser Melodie zu singen oder zumindest zu denken. Und der Text war bestimmt das schönste Gedicht über das Leben in einer Stadt, das Monika kannte.
I am sitting in the morning
at the Diner on the corner
I am waiting at the counter
for the man to pour the coffee
Diese dreifache Festlegung am Anfang, zeitlich und räumlich. In, at, on. Es war ein ganz einfaches Bild, ein Zoom von oben herab auf einen einzelnen Menschen,der in einem Café saß. Das war echte Poesie, nicht dieser schwierig-verrätselte Unsinn, der einem andauernd überall präsentiert wurde. Sie sang leise mit bis zum Ende des Liedes:
I am thinking of your voice
and of the midnight picnic
once upon a time before the rain began
and I finish up my coffee
and it’s time to catch the train
Monika spielte das Lied fünf Mal hintereinander, sang aber nicht mehr mit (da der Klang ihrer eigenen Stimme ihr immer ein Gefühl von Verlassenheit vermittelte), sondern ließ lediglich ihre Lippen sich stumm mitbewegen. Dann hörte sie sich das ganze Album an. Währenddessen schaute sie aus dem Fenster. Sie dachte daran, wie schön es wäre, wenn sich das Fenster auch mit der Fernbedienung steuern ließe, so wie die Stereoanlage oder der Fernseher. Dann könnte man in besonders schönen Augenblicken einfach auf Standbild schalten oder den Tagesverlauf schneller oder langsamer werden lassen, je nach Bedarf. Fast forward. Wie leichtfüßig und unkompliziert eine Stadt im Zeitraffer immer aussah: Die Scheinwerfer der Autos verschmelzen zu vielfarbigen Maibändern, die sich nahtlos durch die Straßen ziehen, die Sonne ist eine von Osten nach Westen geworfene Münze, Baukräne turnen über im Entstehen begriffene Gebäude, Wolken jagen über den Himmel wie Schafherden auf der Flucht vor einem Schäferhund. Alles ist flüssig, alles geht ineinander über. Menschen sind höchstens eine Hundertstelsekunde lang zu sehen,blitzen durchs Bild wie Verunreinigungen auf altem Filmmaterial.
Monika saß mit geschlossenen Augen da, als es läutete. Das Klingeln zerriss ihre Träumerei und die urbane Poesie von Suzanne Vegas Songs. Sie drückte Stopp auf der Fernbedienung, stand auf und
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