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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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horizontale Falte blieb bestehen, wie ein geschlossenes Augenlid. Der junge Mann zog die Lippe unter die Schneidezähne und atmete ein und aus.
    – Ich mag Hochhäuser, sagte die Frau. Man hat immer das Gefühl, es könnte sich alles Mögliche hinter ihnen befinden. Wüsten. Meere. Reiterarmeen. Eben Dinge, die unbemerkt näher kommen, während man nur das Haus anblickt.
    – Es frisst hauptsächlich das Licht, sagte der junge Mann. An bestimmten Tagen steht die Sonne den ganzen Nachmittag hinter diesem hässlichen Monolithen. Äh, dem Monolith. Oder, wie … dem Monol…
    Er drehte den Kopf zur Seite, zwinkerte versonnen. Wie hieß der dritte Fall von Monolith? Monolith, Monolithen. Doch je öfter er das Wort leise für sich wiederholte,desto sinnloser wurde es. Er blickte wieder zur Frau, die in der Zwischenzeit eine Hand auf die Fensterscheibe gelegt hatte, eine Geste, die an Sehnsucht erinnerte.
    Endlich fand er in der Schublade, wonach er gesucht hatte. Eine Türklinke, weißgolden und schwer, hockte unter einem Stapel Briefpapier. Er bewahrte sie immer hier auf, musste aber jedes Mal wieder nach ihr suchen, weil sie, wenn die Schublade geschlossen war, auf eigene Faust darin umherwanderte und sich unter allerlei nebensächlichen Dingen verbarg. Er nahm sie und steckte sie ein.
    Als er aufstand, drehte sich die Frau zu ihm um. Er erwartete, dass sie sich nun verabschieden würde. Mehr hatte das Archiv beim besten Willen nicht zu bieten. Das Sonnenlicht lag, in fächerförmige Streifen zerschnitten, im Zimmer.
    – Vielen Dank für die Führung, sagte die Frau.
    Der junge Mann nickte erleichtert.
    – Jetzt habe ich wirklich das Gefühl, fuhr sie fort, dass ich mich hier ein wenig auskenne. Danke. Ich komme dann allein zurecht.
    Sie ging an ihm vorbei ins nächste Zimmer, wo ein Haufen alter Zeitschriften und ein paar zerfallene Erstausgaben lagerten, und stellte sich zwischen die metallenen Regale, beide Hände in die Hüften gestemmt, als erwarte sie demnächst einen Wink, in welche Richtung sie laufen sollte.
    Der junge Mann folgte ihr. In Gedanken bereitete er einen äußerst höflichen Satz vor, der die Frau auf die Öffnungszeiten hinwies, die schon um etliche Minuten überschritten waren. Als er näher kam, bemerkte er,dass sich die Muskeln auf ihrem Rücken bewegten. Sie trug sehr enge Kleidung, das war ihm schon bei der Begrüßung aufgefallen. Verwirrt starrte er auf ihre Schulterblätter.
    – Ich …, begann er.
    Sie ignorierte ihn. Sie nahm eines der Bücher in die Hand und blätterte darin. Auf dem Umschlagbild sah man einen Mann mit Brille und Dreitagebart, der einer altmodischen Bibliotheksleselampe einen Ausschnitt aus seinem neuesten Buch vorlas. Und obwohl es eine Schwarzweißaufnahme war, konnte man erkennen, dass das Buch genau jenes war, das die Frau in der Hand hielt. Eine merkwürdige Endlosschleife, wie die Schwindel erregenden Spiralen rückgekoppelter Kamerabilder.
    Lächelnd legte die Frau das Buch zurück.
    – Und Sie haben das alles im Alleingang bewerkstelligt, sagte sie.
    Das letzte Wort sprach sie so langsam aus, dass der junge Mann sich zuerst gar nicht angesprochen fühlte.
    – Äh, nein, sagte er. Natürlich nicht. Allein geht so was nicht. Da braucht es Leute, die Räumlichkeiten zur Verfügung stellen und einem die Erlaubnis erteilen, die Unmengen von Papier, die dieser Mensch vollgeschrieben hat, zu sichten und dann natürlich systematisch durchzulesen und –
    Er brach ab, weil die Frau sich in ein anderes Buch vertieft hatte. An ihren Lippenbewegungen sah er, dass sie las.
    – Aber ich bin zumindest derjenige, der immer hier ist, sagte er. Oder war , je nachdem. Aber wissen Sie …
    Mit großer Geste hob er den Unterarm und sah aufdie Uhr, in der Hoffnung, die Frau würde es bemerken. Aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Lippen buchstabierten einen Satz zu Ende. Ihr Gesicht verzog sich zu einem kindlichen Lächeln.
    – Hihi, sagte sie. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis . Hat er das geschrieben?
    – Ich fürchte nicht, sagte der junge Mann und bückte sich, um zu sehen, welches Buch die Frau genommen hatte.
    – Aber es geht ja noch weiter, sagte sie. Stockend und mit dem Zeigefinger der Zeile folgend, las sie langsam vor: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Aber wofür? Für noch mehr Vergängliches. Haha …
    Ihre Stimme war immer leiser geworden. Nicht einmal richtig lesen kann sie, dachte der junge Mann und spürte, wie ihm noch

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