Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Wohnung im Waggon Nr. 21 der gigantischen Stahlkonstruktion am Stadtrand.
In den späten neunziger Jahren vom österreichischen Stararchitekten Albert Zmal erbaut und von einigem medialen Rummel begleitet, war das blaue Rad, dessen Querverstrebungen und fahrradartige Speichen an diesem Septembermorgen durch den Nebel schimmerten, allmählich zum neuen Wahrzeichen der Stadt geworden. Gleichzeitig allerdings ging die Nachfrage nach den Wohnungen dramatisch zurück, was wohl mit der gewöhnungsbedürftigen Art und Weise zu tun hatte, auf die man seine Behausung verließ. Man musste entweder bis zu vierzig Minuten warten, bis der Waggon den Erdboden erreicht hatte, oder man drückte den Halteknopf und nahm einen der Expresslifte innerhalb der Speichen zum zentralen Hauptturm, von dem aus man durch ein Treppenhaus ins Freie gelangen konnte.
Im Augenblick befand sich Monikas Wohnung ganz oben, am höchsten Punkt des Rads, mehrere hundert Meter über dem Erdboden. Monika saß am Küchentischund wärmte ihre chronisch schlecht durchblutete Hand an einer dampfenden Tasse Tee. Darjeeling. Sie las die Aufschrift des kleinen Teebeutels schon zum dritten Mal. Ein freundliches, fast zärtliches Wort, so wie Darling, nur in der Mitte von einer fremdartigen Silbe auseinandergedehnt.
Ihr Tag hatte trübselig begonnen. Zuerst hatte sie versucht, ihre Zimmer zu lüften, musste aber feststellen, dass wieder einmal jemand den Halteknopf gedrückt hatte, vermutlich sogar gedrückt hielt , was immer passierte, wenn jemand umzog, und dass sie noch viel zu nahe über dem Lärm und dem Schmutz der Hauptstraße schwebte. Also hatte sie ein Bad genommen und sich anschließend die Zehennägel lackiert, aber ihre Stimmung war davon nicht besser geworden.
Sie schaute aus dem Fenster. Das graue Exoskelett einer leerstehenden Fabrikhalle am anderen Ende des Stadtparks war deutlich zu erkennen. Daneben ein hässlicher, weißer Kirchturm. Sonst lag alles mehr oder weniger im Nebel verborgen.
Das Highlight des vor ihr liegenden Tages war der Besuch eines Technikers. Monika erwartete ihn für zehn Uhr. Gestern, als sie den Knopf gedrückt hatte, war das Rad nur für fünf Minuten stehengeblieben und hatte sich danach automatisch wieder in Bewegung gesetzt, und sie war in der sich langsam zur Seite neigenden Liftkabine hingefallen. Das war gefährlich, so etwas sollte nicht vorkommen. Sie hatte sofort den Portier im Hauptturm angerufen und ihm alles erklärt. Er hatte sich vielmals für diesen Fehler in der Steuerung entschuldigt und ihr versprochen, gleich am nächsten Tag jemanden zu ihr zu schicken.
Monika schaute auf die Uhr. Es war erst sieben. Mein Gott, dachte sie, was soll ich drei Stunden lang tun? Ein Spaziergang kam nicht in Frage, da sie nicht wusste, wie viel Zeit sie dabei vertrödeln würde. Natürlich gab es noch die Cafeteria im Hauptturm, aber da würde sie wahrscheinlich der alten Frau Schuster aus Waggon 7 über den Weg laufen. Die saß dort oft am frühen Morgen, und auf ein Gespräch über Zimmerpflanzen, Kuchenrezepte und den schriftstellerischen Erfolg der Enkelkinder hatte Monika keine Lust. Nein, sie würde einfach hier in ihrer Wohnung bleiben und versuchen, die Zeit totzuschlagen. Sie nahm einen weiteren Schluck Tee. Immer noch brennheiß. Missmutig ging sie zum Waschbecken und ließ einen Schuss eiskaltes Leitungswasser in die Tasse, rührte mit dem kleinen, silbernen Löffel um und probierte. Kein Unterschied. Sie stellte die Tasse zurück auf den Tisch und ging auf den Balkon. Frische Luft begrüßte sie, neblige, sauerstoffarme Stadtluft. Sie verschränkte die Arme über ihrem Kopf und versuchte tief einzuatmen, aber dann erschien ihr diese Geste plötzlich viel zu albern, und sie kehrte zurück in ihre Wohnung. Sie setzte sich auf das kleine samtrote Jogakissen neben dem Heizkörper und schaltete den Fernseher ein. In der digitalen Programmzeitschrift, in der sie mit der Fernbedienung blätterte, entdeckte sie einen Selbstmassagekurs auf Bayern Alpha . Er begann in sieben Minuten. Genau das Richtige, dachte Monika. Sie schaltete auf einen anderen Kanal, eine hektische Kochsendung, dann auf MTV. Eine Boyband hüpfte über die Bühne. Einer der jungen Sänger riss sich das Hemd vom muskulösen Oberkörper, und Monikaschüttelte den Kopf. Dann schaltete sie zurück auf Bayern Alpha und wartete. Noch drei Minuten bis zum Beginn der Sendung. Sie schaute sich das Ende einer Dokumentation über das Leben der Insekten an.
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