Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Wheel Bar waren bestimmt auch längst die Lichter ausgegangen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, jetzt um diese Zeit dort einzubrechen. Was würde sie vorfinden? Ein verlassenes Lokal mit Tischen, auf denen die Sessel Kopfstand übten. Und in einem Schrank die leblosen Uniformen der Kellnerinnen. Die kleinen Namensschildchen. Tina .
Monika zog ihre Gedanken mühsam von dem Namen fort; es war schwierig, wie ein Rudel Hunde, das an einer einzigen Leine hing. Doch es gelang ihr. Sie schnallte sich eine Rakete auf den Rücken und flog über die Stadt. Der schwarze Nachthimmel machte sie unsichtbar. Unten zogen die vielen tausend Gebäude vorbei, aus denen die Stadt bestand. Und alle waren zum Bersten gefüllt mit Menschen. Kein Platz wurde verschwendet.
Immer noch stand das Rad still, und Monika wickeltesich fester in ihre Bettdecke. Fremde Leute fuhren in diesem Augenblick durch die Expresslifte zu ihren Wohnungen.
Monika rollte sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Ich werde die Augen erst schließen, dachte sie, wenn wir uns weiterdrehen. Doch sie wusste, dass das Getriebe des Riesenrads jedes Mal mit äußerster Zurückhaltung und Zartheit wieder in Gang kam, so, dass man es kaum bemerkte. Daran war an sich nichts auszusetzen. Das einzige Problem war, dass niemand eine solch zärtliche Behandlung verdient hatte. Niemand. Zumindest nicht heute Nacht, dachte Monika. Zumindest nicht durch ein riesiges unbeseeltes Metallgestell am Rande einer mittelgroßen Industriestadt.
Character IV
Schon als Kind hatte er sich manchmal vorgestellt, wie es sein müsste, im Inneren verschiedener Dinge zu leben, etwa im Inneren einer Uhr – und all die vielen winzigen Zahnräder näher kennen zu lernen, die dort am Vergehen der Zeit arbeiteten. Oder im Inneren einer Glühbirne, als Herr über den Leuchtfaden und das Edelgas, das jahrhundertelang ohne Unterbrechung brennen konnte. Oder im Inneren einer Stecknadel – und in ihr mit einer Taschenlampe herumzugehen; er war sich sicher, dass sie, so schmal sie von außen auch aussehen mochte, innen doch sehr geräumig sein musste, voller Geheimkammern und finsterer Verliese. Heute lebte Trevor im Inneren einer Schneekugel. Das ganze Jahr lag hier Schnee, es gab ein Haus mit einem kleinen Wintergarten, davor stand eine Laterne und warf ihr Licht auf einen Flecken kaum jemals betretenes Gras. Eine Halbkugel aus Glas umgab das Grundstück und hielt den Weltraum draußen. Das war sein Wohnort, der Rest des winzigen, aber enorm massereichen Planeten, der auf annähernd gerader Flugbahn zwischen zwei Zwillingssternen hindurchschwebte, war leer und wüst. Für eine volle Pendelbewegung hin und zurück benötigte der Planet ungefähr 37 Jahre, und in etwas mehr als 100 Stunden drehte er sich einmal um sich selbst. Er besaß keine Atmosphäre, es gab nur Weltraum, schwarz und voller verschiedenfarbiger Sterne.Es heißt, dass die alten Sumerer oder Babylonier auf der Erde den Sternenhimmel ebenfalls in Farben hatten sehen können, aber dann musste etwas passiert sein, entweder mit der Erdatmosphäre selbst oder mit dem Erbgut der Menschen, jedenfalls hatte Trevor in seinem ganzen Leben noch niemanden getroffen, der die Sterne farbig sehen konnte, und hatte auch nie von jemandem mit diesen Fähigkeiten gehört, damals, als er noch auf der Erde gewohnt hatte. Die Übersiedlung hierher nach Character IV war das Beste gewesen, was er je getan hatte. Die vollkommene Einsamkeit hätte jeden anderen wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben, aber Trevor machte sie nichts aus. Er pflanzte Gurken in seinem kleinen Wintergarten. Er zog Kakteen in teelöffelgroßen Tassen. Er las in uralten Zeitungen und Telefonbüchern und amüsierte sich über die teils sehr witzigen Namen all der toten Menschen. Und er bastelte an seinem Roboter, so wie manche Männer auf der Erde jahrelang an einem alten Auto basteln, für das man kaum noch Ersatzteile bekommt. Ersatzteile waren hier oben zwar kein Problem, das erledigte die Hutchisonkammer im Keller, aber es ging doch alles sehr langsam voran. Vielleicht lag das an der minderwertigen Atemluft, der er hier Tag und Nacht ausgesetzt war. Schon lange hatte er sich eine bessere Zirkulationspumpe und Filteranlage anschaffen wollen, aber der Griff zum Telefon war ihm jedes Mal wie ein äußerst dekadenter Einfall erschienen, und er hatte es bleiben lassen. Es war auch nicht so schlimm, dass er den Bau des Roboters nur langsam vorantreiben konnte. So machte er
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