Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
über Programmiersprachen und Softwareentwicklung, das Regan während seines Studiums angehäuft hatte, über Nacht verlorenging.
Mit dem Geld, das ein toter Verwandter ihm hinterlassen hatte, reiste er Anfang des Jahres 2005 zum ersten Mal nach New York. Er wohnte in einem kleinen Apartment in der Lower East Side. Er fühlte sich sofort wohl in der Stadt, in der er – wie er in seinemTagebuch schreibt – das Gefühl hatte, in einem Buch weiterzublättern, wenn er nordwärts durch die wie Seitenzahlen nummerierten Straßen ging, und in der sein harter nordenglischer Akzent ihm das Gefühl gab, aus der Masse hervorzustehen wie ein rostiger Nagel . Während der ganzen Zeit arbeitete er an dem grafischen Aufbau seines kleinen Spiels und notierte in seinem Tagebuch seine Begegnungen mit den geheimen Sehenswürdigkeiten der Stadt. In Chinatown kaufte er in einem kleinen Supermarkt ein und stolperte in der Hygieneabteilung über eine magere Katze, die sich an seinem Bein rieb. Im Battery Park traf er auf einer Wiese einen großen, braunen Fasan und hielt ihn im ersten Moment für ein Produkt seiner Einbildung. Er entdeckte kleine, auf sonderbare Dinge spezialisierte Geschäfte, die sich in Nebenstraßen versteckten und ausschließlich Schachfiguren oder Grabkreuze oder Anzüge für Chefköche verkauften. Er registrierte den merkwürdigen Augenblick, wenn man plötzlich mitten im Strom der Jogger auf der Brooklyn Bridge stehenbleibt und trotzdem von niemandem berührt wird. Vom Fenster seiner Wohnung aus konnte er auf die Fassaden anderer Häuser blicken, an jeder ein breites Zickzack aus Feuertreppen. Eines Tages beobachtete er einen Hund, der eine dieser Feuertreppen stundenlang auf und ab kletterte. Überhaupt fielen ihm in dieser Zeit besonders häufig Tiere auf. Ein Eintrag im Tagebuch lautet etwa:
Eine Fliege verirrt sich zu mir ins Zimmer, setzt sich auf meinen Bildschirm und reibt ihre Vorderbeine aneinander, wie ein schadenfroher Bösewicht seine Händeim Fernsehen. Eine echte New Yorker Fliege, denke ich. Und lasse sie leben. 4
Oder:
In dieser Stadt gibt es viel zum Umarmen, Menschen, Gebäude, Tauben. Die Venus von Milo hätte hier nichts zu suchen. Ich würde ums Verrecken nicht mit ihr tauschen wollen, auch wenn sie unsterblich ist und ich nicht. 5
Und als er eines Tages die Fähre von Staten Island nach Manhattan nahm (um, wie er schreibt, zu überprüfen, ob Manhattan tatsächlich wie die Böcklin’sche Toteninsel aus dem Nebel auftaucht), hatte er nur Augen für die Möwen, die in geringer Höhe neben dem Schiff herflogen und von den Touristen mit Popcorn gefüttert wurden.
Woher dieses Mitgefühl für Tiere kam, war ihm vermutlich selbst nicht klar. Figures in a Landscape wimmelt jedenfalls, wie jeder Spieler sofort merkt, von verschiedensten Tieren, manche echt, manche erfunden.
Oft wird gesagt, das Spiel handle von einem Stalker. Das ist eine ebenso lächerliche Vereinfachung wie die Behauptung, Moby Dick sei ein Roman über den Walfang. John Brel, die Hauptfigur, 6 ist vierunddreißig, wiegt hundertfünfzig Kilo und ist von einer jungen Frau besessen. Er wohnt in einer traumartig verschachteltenStadt, durchlebt moralische Dilemmata, wie man sie sonst nur aus Dostojewski-Romanen kennt, muss mit Waffen, Redekunst und aufgesammelten Objekten Rätsel lösen, die man seinen ärgsten Feinden nicht zumuten würde.
Nach einer schlaflosen Nacht in New York schrieb Regan: Ich weiß nun, was Grauen ist. Ich lag in meinem Bett und habe gespürt, wie die Erdkugel mit mir ins All davonrast. Niemand kann entkommen, alles ist mitbewegte Ahnungslosigkeit.
Kurz darauf skizzierte er die ersten Szenen seines neuen Spiels in seinem Tagebuch. 7
I) Streit zwischen JB und seiner Freundin. Am Himmel draußen, statt Mond, ist eine Raumstation, in die sich die Freundin flüchtet, weil er wieder ins Bett kommt. Blutet manchmal ohne Grund aus dem Ohr. Armer JB.
– Ich kann das nicht mehr!, schreit sie. Ich kann nicht mehr.
Nachdem sie diese Sätze abgestoßen hat, wie andere Menschen ein in sie verpflanztes Spenderorgan nach einer gewissen Zeit abstoßen, rennt sie von ihm fort. Aber durch die Eile wird ihre Geschwindigkeit natürlich stark abgebremst, und sie bewegt sich in verzweifelter Zeitlupe durchs Zimmer. Sie bemerkt erst nach ein paar Sekunden, wie langsam sie ist, und schaut den Spieler ängstlich von der Seite an.
Zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren (wählbar durch Pop-up-Fenster):
a)
– Keine
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