Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.

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Angst, versichert er ihr. Das ist nur die Relativitätstheorie.
    Darauf sie:
    – Mach, dass es aufhört.
    Sie redet enorm verlangsamt und mit in extremem Dopplereffekt tiefer gestellter Stimme, die ein kleines Kathedralensymbol am oberen Bildschirmrand erscheinen lässt.
    b)
    – Entspann dich. Du musst nur aufhören, dich anzustrengen, sagt JB . Entspann alle Muskeln, dann wird es gehen –
    Noch ehe er fertig gesprochen hat, hat sie seinen Rat auch schon befolgt und zischt davon, aus dem Zimmer. Man hört die Tür zum Balkon zersplittern. Offenbar ist sie mit voller Wucht hineingeknallt. Zwei kleine Kathedralen erscheinen am oberen Bildschirmrand.
    Kameraschwenk nach unten (keine Pseudo-3D!, echter Schwenk muss möglich sein), JB blickt auf seine großen Zehen. Sie tragen kleine Fliegerbrillen aus dem Zweiten Weltkrieg und sehen irgendwie gefährlich aus. Seine Lebensenergie beginnt zu fallen.
    Ein anderer Eintrag aus derselben Zeit lautet:
    Versöhnungsgespräch mit der magischen Schlampe.
    JB stellt einen schmutzigen Turnschuh auf den Suppenteller. Die Schlampe beginnt zu weinen. Sie nimmt den Schuh und herzt ihn, zwirbelt die Schnürsenkel zu kleinen Schleifen und schaut ihn mit großen, traurigen Augen an.
    Pop-up-Fenster mit Wahlmöglichkeiten:
    a)
    – Ist ja gut, sagt JB zu ihr. Niemand wird es je erfahren.
    – Glaubst du?
    Ihr Mund wird zu einem bronzenen Türstopper, der früher einmal ein bronzenes Löwengesicht gewesen sein mochte. Ausdruckslos und dumm.
    – Bestimmt, sagt JB.
    b)
    – Du bist krank, sagt JB.
    – Ich glaub dir nicht, jammert sie, verbirgt ihr Gesicht in den Händen und drückt sich den Schuh wie zur Strafe fest in den Bauch.
    – Nicht doch, versucht er ihr darauf den Schuh wegzunehmen, aber es gelingt nicht.
    c)
    (Kleines, halb verstecktes Handsymbol anklicken?)
    Er gibt ihr seine Hand, und sie beginnt mit ihr zu spielen, klaubt die Finger wie die Perlen auf einem Rechenschieber von der linken auf die rechte Seite und anschließend von der rechten zurück auf die linke Seite und scheint den Schuh völlig vergessen zu haben. Mit einem leisen Plumps fällt er auf den Boden, ein ausgebranntes Wrack, dessen Hinterreifen besiegt zur Decke starren.
    Bis zum Frühsommer 2006 blieb Regan in New York. Er übersiedelte bald nach seiner Ankunft in eine neue Wohnung, die ihm ein Bekannter aus Berlin für mehrere Monate überließ. Er schrieb viele Briefe, arbeitete nächtelang an seinem Spielken (wie er die ersten Entwürfe zu Figures in spöttisch-fehlerhafter deutscher Aussprache nannte) und verliebte sich im März desselben JahresHals über Kopf in eine junge Studentin, die mit ihm schon bei ihrem ersten Rendezvous ins Bett ging. Von außen betrachtet war diese Zeit für Marc eine glückliche. Doch neuerdings wurde er in den frühen Morgenstunden – der einzigen Tageszeit, wo er Schlaf fand – oft von einem wiederkehrenden Albtraum geplagt, der ihn so sehr beschäftigte, dass er ihn in seine Aufzeichnungen zu Figures integrierte:
    Traum: Auf einer verlassenen Rennstrecke. Ausgestorbene Zuschauertribünen. Eine melancholische, von niedrigen europäischen Wolken [sic] gefilterte Sonne. In der Ferne brennt ein Formel-1-Wagen. Ich begegne einer Art Vogelscheuche, die mich fragt, ob meine Seele gut überwechseln wird. Ich antworte ihr mit einer mir selbst unverständlichen Sicherheit: Die hat sich längst schlafen gelegt, Sir. In meiner Hand halte ich ein Mobiltelefon, das ich einzuschalten versuche. Aber das Display bleibt dunkel. Daraufhin entsetzliche Angst, nach Luft schnappendes Aufwachen und ein dumpfes Todesgefühl, das den ganzen Tag anhält. So wie damals, als ich sechs Jahre alt war und nach einer mit ausweglosen Spekulationen über ein Leben nach dem Tod verbrachten Nacht beschlossen habe, nicht zu sterben. Gleich am nächsten Tag würde ich an die Arbeit gehen und mir was einfallen lassen. Aber das Einzige, was ich getan habe, war, mit Bauklötzen zu spielen. Nach dem Rennstreckentraum nun ähnliches Gefühl von unerledigter wichtiger Arbeit, von leichtfertig verschenkter Transzendenz. 8
    Kenner des Spiels werden keine Schwierigkeiten haben, die in dem Traum beschriebene Szene wiederzuerkennen. Im vorletzten Level begegnet uns dieser Ort beinahe unverändert, eine neblige Rennstrecke, in der Ferne das brennende Fahrzeug und dann das Gespräch mit einem zerlumpten Mann. Auch das Kind mit den Bauklötzen wird – möglicherweise unbewusst – an einer anderen Stelle des Spiels