Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

sonderbar feindselige geometrische Welt blickt, in der es den ganzen Tag scharfkantige Gesteinsbrocken regnet. Das Spiel an sich ist sehr einfach: Die Steine fallen einer nach dem anderen vom Himmel, und der Spieler kann sie per Knopfdruck rotieren lassen, auf dass sie vielleicht ein wenig günstiger am Boden aufschlagen. Hat er eine ganze Reihe lückenlos, ohne Luftlöcher, zugemauert,löst sich diese auf – ein beglückend widernatürliches Ereignis, da im normalen Leben ja bekanntlich immer alles stehen bleibt, wo es ist.
    Fieberträume bestehen in der Regel aus denselben Zutaten: gigantisch große oder winzig kleine Blöcke, die nach einem manchmal mehr, manchmal weniger komplizierten System geordnet und hin und her geschafft werden müssen. Woher das System kommt oder wer es vorschreibt, bleibt immer unklar, aber der Fieberkranke käme nie auf die Idee, sich aufzulehnen oder das System in Frage zu stellen. Denn er weiß: Es würde sein Ende bedeuten. Verbunden mit der Schwierigkeit oder – in den meisten Fällen – Unmöglichkeit, die Blöcke wirklich sinnvoll zu ordnen, ist das Gefühl einer fast schon kosmischen Hoffnungslosigkeit: Das ist alles, was existiert, es gibt NUR MEHR diese Blöcke und die rätselhaften Regeln, nach denen sie im Universum verschoben werden müssen. Mehr existiert nicht. In solchen Fiebernächten voller Geometrie begegnet man den tiefsten Empfindungen von Leere und Sinnlosigkeit, die ein normales Lebewesen gerade noch aushalten kann. Und wenn sich allmählich, meist am Ende einer von unmenschlichen psychischen Anstrengungen erfüllten Nacht, eine Reihe von Blöcken auflöst und nichts als beruhigende Schwärze zurückbleibt, bedeutet das lediglich, dass die Krankheit langsam abklingt. Das System selbst ist nicht eine Sekunde lang ins Schwanken geraten. 17
    Super Mario und Sokoban waren für Regan tragische, in ihren zweidimensionalen Welten gefangene Helden, die ähnlich limitierten Bewegungsabläufen unterworfen sind wie die Kapuzenmänner in Samuel Becketts Fernsehstück Quadrat 1+2. Das Ego-Shooter-Spiel Doom verglich er sogar mit bestimmten Höllendarstellungen bei Bosch, Dalí und Goya. Auch wenn diese Vergleiche einem streng wissenschaftlichen Blick nicht standhalten und überzogen und bemüht wirken, demonstrieren sie doch einen Bewusstseinswechsel, der die Auffassung von Kunst in unserer Zeit bestimmt.
    Von dem ungeheuren Einfluss, den Figures in a Landscape auf die künstlerischen und intellektuellen Sphären des frühen 21. Jahrhunderts hatte, zeugt die beeindruckende Zahl von Aufsätzen, Monografien und wissenschaftlichen Studien, die sich mit seinem Werk auseinandersetzen. Hier eine Liste besonders bemerkenswerter Titel:
    »Don’t speak to me, or I’ll fucking answer«: Logic and Fuzzy Logic in Figures in a Landscape
    Das Nash-Equilibrium im Werk von Marc David Regan
    Marc D. Regan: Absurdes Zeitalter im Digitalen Theater
    »Mister, we are here to amuse your corpse« – Eine feministische Studie zu den Frauengestalten in »Figures in a Landscape«
    Mirrors on the World: M. D. Regan vs. M. C. Escher
    Violence is the Music of the Spheres – A Decontructivist Speedrun Through M. D. Regan’s Figures in a Landscape
    Kafka, Lynch, Regan
    A Reader’s Guide to Figures in a Landscape
    A Cheater’s Guide to the Reader’s Guide to Figures in a Landscape
    John Brel – the New Leopold Bloom?
    Und schließlich mein persönlicher Favorit:
    Marc David Regan – Magician or Trick?
4. Die Suche nach dem letzten Level
    Jedes Genie hat seine Exegeten: eine Gruppe verlässlicher Menschen, die Museen nach ihm benennt, Studienzentren ins Leben ruft und der Erschließung seines Werks ihr Leben widmet. Die Fan-Community von Figures in a Landscape ist wahrscheinlich die ernsthafteste und wissenschaftlich am besten gerüstete, die sich je mit einem Computerspiel befasst hat. Und auch sie ist zu wilden Kontroversen fähig.
    Bis heute weiß niemand, wie man das letzte Level von Figures in a Landscape direkt im Gameplay erreicht. Man bleibt bestenfalls im vorletzten Level stecken, irrt auf der Rennbahn umher oder beklettert die leeren Besuchertribünen, aber es gibt keinen Ausgang, keinen Schalter, den man umlegen kann, keinen Punkt, von dem aus man weiterteleportiert wird. Es wird allgemein vermutet, dass Regan es darauf angelegt hat, dass man es nur als Hacker betreten kann, d. h., dass man den Quellcode des Programms nach dem Level durchsuchen und es dann gesondert starten muss. Vor zwei