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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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zitiert, im wahrscheinlich berühmtesten Level, dem Heim für schwer verständliche Kinder . 9
    Ein weiterer Grund dafür, dass Marc länger als geplant in New York blieb, waren die eindeutig besseren Arbeitsbedingungen. Während der Arbeit an seinem Spiel hörte Regan gern sehr laute Musik. Seine Nachbarn in Deutschland hatten sich viel häufiger über die Lärmbelästigung beschwert als die in New York. Bis zumAnschlag aufgedreht, dröhnten Death-Metal-Bands oder die frühen Kompositionen von Steve Reich und Philip Glass durch sein Zimmer.
    Je monotoner und langweiliger die Hintergrundmusik, desto besser kann ich denken, schrieb er in einem Brief an seine Eltern. Mein Genie (ha!) braucht irgendwie immer ein Trägersignal, das gleich bleibt und trotzdem autoritär genug ist, um jeden möglichen Kreativitätssprung zu erlauben. Würde ich Mahler oder Alban Berg oder die Beatles oder Daniel Johnston hören, 10 hätte ich überhaupt nichts mehr zu sagen. Die haben schon alles gesagt. Dagegen sind die fast schon hypnotisch langweiligen Stücke dieser Minimalisten genau das, was ich brauche. Meine Freundin hat mich auf sie aufmerksam gemacht, und jetzt kann ich gar nicht mehr ohne sie arbeiten. Sie machen meinen kreativen Gedankenfluss erst möglich, auf ihnen kann ich mich ausstrecken wie auf einem Liegestuhl. 11
    Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass Regan nicht einfach nur ein surreales Computerspiel programmieren wollte. Er hatte allen Ernstes vor, seine spezifische Art, zu denken und zu empfinden, in das Spiel zu übertragen. So würde ein Spieler, der sich ganz auf die Logik von Figures in a Landscape einlässt, es immer mit ihm, mit Marc David Regans Gehirn, zu tunhaben – und zwar buchstäblich. Es würde immer seine Art zu reagieren sein, seine Stimmung, seine Träume, seine Unzufriedenheit, seine Ängste. Jeder Spieler weiß: Das Spiel verändert nach einer gewissen Zeit die Regeln, nach denen man es spielen muss. Hochkomplexe fuzzy-logic-artige Winkelzüge. Manchmal ist der Spieler vollkommen im Dunkeln und nichts ergibt irgendeinen Sinn. Er steckt tagelang in einem Level fest, und wenn er das Spiel beendet und wieder aufruft, ist er plötzlich in einem anderen Level.
    Die meisten menschlichen Wesen in dem Spiel erscheinen als vollendete Paranoiker. Sie sind auf alles gefasst, ständig auf der Hut, eigensinnig. Sie analysieren ohne Unterbrechung ihre Umwelt, immer wachsam und misstrauisch, obendrein noch dokumentarisch veranlagt und – was Regans frühe Kritiker am meisten überrascht hat – ohne die geringste Spur von Gewissen. Gewissen entwickelt sich bei seinen Figuren immer nur in einem sozialen Gefüge. Das Objekt Gewissen erwirbt der Spieler demnach erst, nachdem er viele Menschen im Universum des Spiels kennengelernt hat. Das Gewissen ist ein kleiner grüner, mit einer Schnur umwickelter Reisekoffer, auf dem Deckel sieht man ein Handschuhsymbol. Es ist unmöglich, den Koffer zu öffnen, aber der Blick fremder Menschen auf ihn lässt ihn bisweilen anschwellen oder implodieren, je nachdem von welcher Intensität der Blick ist. Der Spieler kann sich, wenn er den Koffer einmal erworben hat, nur sehr schwer von ihm trennen. Paradoxerweise – aber dieses Paradox ist in der Welt des Marc David Regan selbstverständlich nur eine Formalität – ist Mord eine der Möglichkeiten. Eine andere ist, das Gewissen gegen etwas einzutauschen,das einen sinnvollen Ersatz dafür darstellt. Aber was genau ein solch sinnvoller Ersatz sein könnte, ist dem Spieler nie wirklich bekannt, das Spiel zieht die dafür notwendigen Parameter-Fäden im Hintergrund, und nur durch Zufall oder Glück kann man sein Gewissen gewaltlos verlieren.
    Alle Menschen, schrieb Regan in einem Brief, müssen immer widersprüchlich reagieren. Man droht ihnen mit einer Waffe, und sie fallen einem glücklich um den Hals, man bittet sie höflich um eine Wegbeschreibung, und sie übergießen sich lachend mit Benzin und zünden sich an, oder man klopft nichtsahnend an ein Hoftor, und schon wird man von hinten gepackt, fortgeschleppt und auf etwas geschnallt, das halb Pritsche, halb Operationstisch ist. 12
3. Inspiration und Rezeption
    Der zunächst nur auf eine kleine Underground-Community beschränkte Erfolg des Spiels schlug bald in interdisziplinäre Begeisterungsstürme um. Konrad Lauffer 13 schrieb beispielsweise schon 2007, kurz nach Erscheinen des Spiels:
    Marc David Regan – nun, mit welchem summarischen Begriff will man es benennen –

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