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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Offenbar hat er später die Bitte seiner schwangeren Tochter, mit ihrem ersten Kind bei ihm wohnen zu bleiben, bis ihr Mann eine Anstellung gefunden habe, abgeschlagen.
    Es kommt zum Bruch, fortan vermeidet der Reichstagsabgeordnete den Kontakt mit seiner Tochter und ihrer rasch wachsenden Familie. Der Tod seiner Frau – niemand von uns Geschwistern weiß etwas über diese Großmutter, die auch in den Briefen der Mutter nie erwähnt wird – hat die starre Haltung des Großvaters wohl eher bestärkt als aufgeweicht. Mit der Entscheidung der Mutter für den jungen Musikus war das Verhältnis zu ihrem Vater für immer ruiniert. Er kann sich mit dem Ungehorsam seiner Tochter nicht abfinden, sie kann ihm seine starre Haltung und sein Desinteresse an ihr und ihrer Familie nicht verzeihen.
    Auch Heinrich hatte die meiste Zeit seines Lebens keinerlei Kontakt zu seinem Vater – einem musikalisch begabten Dorfpfarrer und Lebemann, von dem es hieß, dass er sich noch Minuten vor der Sonntagspredigt mit einer drallen Metzgerstochter vergnügte und dann in letzter Minute mit hochrotem Kopf und wehendem Talar auf die Kanzel eilte. Heinrichs Mutter, ihrerseits eine Pastorentochter, war von ihren Eltern zur Heirat mitdem ungeliebten Mann gezwungen worden – eine Zwangsheirat, würde man heute sagen. Nach ihrem fluchtartigen Auszug aus dem Pfarrhaus war von Heinrichs Vater kaum noch die Rede gewesen, er wurde totgeschwiegen. Auch wir, die Enkel, kannten ihn nur unter dem höhnisch ausgesprochenen Titel »Hochwürden«. Manchmal jedoch ließ Heinrich sich zu einem halben Kompliment über die Klavierkünste seines verruchten Vaters hinreißen. Seine rechte Hand sei beim Spielen virtuoser Stücke – Liszt, Chopin – geradezu genial gewesen, die linke jedoch unzuverlässig und korrupt.
    Eine Parallele in dem Verhältnis der jungen Eheleute zu ihren Vätern fällt auf: Auch Heinrichs Frau sprach nach dem Bruch von ihrem Vater mit Abstand, wenn nicht mit Verachtung. In ihrer Korrespondenz mit ihrem Mann nennt sie ihn den Alten , manchmal auch rund-heraus das Schwein . Offenbar hatte er vor allem Augen für seinen Sohn gehabt, der dann später als Bergwerksingenieur in die Fußstapfen seines Vaters trat.
    Erst viele Jahre später kommt es zu einer kurzen Versöhnung, als Heinrich ein von ihm komponiertes Ballett in der Deutschen Staatsoper in Berlin zur Aufführung bringt. Der inzwischen pensionierte Reichstagsabgeordnete nimmt daran an der Seite seiner stolzen Tochter in der Loge teil und vermerkt mit Erstaunen, dass das Publikum beim Schlussapplaus zwanzig Vorhänge erzwingt.
    Gisela Deus weist mich auf eine Tatsache hin, die mich völligüberrascht. Nach den Briefen der Mutter zu schließen, hatten die Eltern die längste Zeit ihrer knapp zwanzigjährigen Ehe getrennt gelebt. Sie führten, wie man heute sagen würde, eine commuter-Ehe. Nur an Wochenenden, an Feiertagen oder in der Urlaubszeit im Sommer kamen sie zusammen. Ihre Kinder sind mit einem Abstand von jeweils drei Jahren alle im April geboren und wahrscheinlich in den Sommerferien an der Ostsee gezeugt worden. Bei welchen Geburten der Erzeuger anwesend war, lässt sich nicht erschließen. Sicher ist, dass die Mutter mit ihrer wachsenden Kinderschar die meiste Zeit allein gewesen ist. Ihre ersten Ehejahre verbringt sie statt in der Villa ihres Vater in der bescheidenen Wohnung ihrer Schwiegermutter, im sächsischen Oschatz. Zeitlebens spricht sie die ebenso geliebte wie gehasste Betreuerin ihrer Kinder in ihren Briefen als »liebe Mutter« an, ganz so, als habe sie keine eigene. Vorläufig konzentriert sie ihre ganze Unzufriedenheit auf die Kleinstadt, in der zu leben sie gezwungen ist, auf Oschatz.
    War sie durch ihre immer gefährdete Gesundheit zu dieser frühen Gefangenschaft gezwungen? War Heinrich vielleicht, wie Gisela Deus überlegt, mit seiner Mutter zu dem Schluss gekommen, dass seine fragile Gattin ständigen Beistand benötigte, den Beistand seiner Mutter, die ihren ältesten Sohn Heinrich vergötterte und in seinen Augen das Inbild einer Mutter verkörperte? Oder hatte das junge Paar schlicht und einfach nicht die Mittel, einen eigenen Hausstand zu finanzieren?
    Vieles spricht dafür, dass der zwanzigjährige, noch stellungslose Heinrich in den ersten Jahren seiner Ehe selber für Abstand zur Familie sorgte. Komponisten werden bei den Orchesterwerken, die sie zuerst im Kopf entwerfen, mehr als andere Väter durch Kindergeschrei gestört. Heinrich, der sich in

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