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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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nicht sein kann. Ich will aber diesen Wartezustand aufheben, der an meinen Kräften zehrt .
    In dieser Zeit lässt sie sich auf ihre Affäre mit Hans ein. Sie erlebt sie als Befreiung, als Entdeckung ihrer Liebes- und Ausdrucksfähigkeit. Von nun an wird sie nicht mehr warten.
    Erst in den Jahren des Krieges, als der Vater zunächst in Lübeck und später in Königsberg an der Oper dirigiert, erlebt die Mutter den Luxus einer gemeinsamen großbürgerlichen Wohnung und genießt in vollen Zügen die Premierenfeiern, während hundert Kilometer weiter russische Panzer bereits die Ostfront durchstoßen.
    Es war wohl die beste, die aufregendste Zeit im Leben der Mutter. Sie fällt auf durch ihre schicken, selbst geschneiderten Kleider, sie tanzt, sie betrinkt sich, sie bezaubert die Gäste durch ihre Flirts, ihre eigenwilligen Bemerkungen, über die man zweimal nachdenken muss. Auch durch ihre Fähigkeit, aus einem Minimum von verfügbaren Lebensmitteln viel zu machen und ihre Gäste zu bewirten. Der Vater ist stolz auf diese Frau, die allen Männern, und auch seinem Freund Andreas, den Kopf verdreht.
    In diese Zeit fallen in den Briefen aber auch Bemerkungen,die mir eine Zeit lang jede Lust nahmen, mich mit ihnen weiter zu beschäftigen – arglos und ganz selbstverständlich eingestreut am Anfang oder Ende eines Briefes stehen Sätze, deren Buchstaben sich in meinem Kopf in Fettdruck verwandelten.
    Siehst gut aus in Uniform, ich habe nur noch Bedenken wegen der Farbe! Aber schön ist’s, daß du dich bei der HJ so wohl fühlst!
    Der Vater im Februar 1935 in Uniform bei der HJ ? In welcher Uniform? Das Bild, von dem die Mutter spricht, fehlt in den Familienalben. Offenbar hatte er in der Bedrängnis seiner Arbeitssuche die Leitung einer Musikgruppe bei der HJ übernommen. Fand er ganz einfach nichts dabei? Welche Lieder, welche Musikstücke hat er mit der Gruppe eingeübt? Ich hatte immer gehofft, dass ein Gerücht, das uns durch seinen jüngeren Bruder zugetragen worden war, nur ein Gerücht war – zurückzuführen auf den lebenslangen Streit zwischen den beiden Brüdern. Danach hatte Heinrich beim Reichsparteitag in Nürnberg 1936 ein HJ -Orchester dirigiert. Sicher nicht die offizielle Festaufführung von Richard Wagners Meistersingern, aber wohl doch eine Laienschar von Pimpfen, die zwischen Aufmärschen und wehenden Nazifahnen auf einer der Holztribünen spielten.
    Und dann dieser Einschlag in das bis dahin unbeschmutzte Bild vom Vater: Ein Brief der Mutter an die Lieben in Oschatz vom 30.4.41 endet mit der fröhlichen Nachricht:
    Heinrich war zwei Tage in Angerburg. Im Führerhauptquartier undkam gestern ganz aufgemuntert wieder mit zwei Flaschen herrlichem Rotwein, der auf meinen aufgeregten Darm wie ein Wunder wirkte. Adolf war nicht da, aber viele Generäle, finnische und italienische, sie sind ganz fürstlich aufgenommen worden, das hat ihnen so gutgetan! Da gibt`s noch alles, vom Burgundersekt bis zu Likören!
    Angerburg war die nächste Bahnstation auf dem Wege zur Wolfsschanze, die der beim Besuch nicht anwesende Adolf ab 1940 in der Nähe von Görlitz errichten ließ. Der Plural in dem Satz: Sie sind ganz fürstlich bewirtet worden … wird sich auf seinen Freund und Kollegen Andreas bezogen haben, der seit 1937 NSDAP -Mitglied war.
    Aber der Vater? Er war doch nie in die Partei eingetreten!, ruft der Sohn dazwischen, der diese Briefe liest. Befragt nach der Vergangenheit meiner Eltern, hatte ich immer geantwortet, wir – meine Geschwister und ich – hätten das Glück gehabt, dass unser Vater parteilos geblieben, im Krieg ein kleiner Gefreiter gewesen war und nie einen Schuss abgegeben hatte.
    Und nun der Besuch in der Wolfsschanze!
    Was hatten die beiden, damals gerade dreißigjährigen Opernmusiker dort zu suchen?
    Aus den Recherchen zu meinem Buch über den jüdischen Musiker Konrad Latte weiß ich, dass Darbietungen von populären Operettensongs und Sketchen von Hitler und seinem Propagandaminister als kriegswichtig angesehen wurden. Die beiden dürften die anwesenden Generale durch ein paar schmissige Klaviernummernund einige, vielleicht von Andreas vorgetragene Couplets vor dem anschließenden Besäufnis unterhalten haben. Und der gute Heinrich hatte die ihm geschenkten Rotweinflaschen der Mutter seiner damals drei Kinder überbracht.
    Aber der jüdische Musiker Konrad Latte hatte seine Rolle als Unterhaltungskünstler übernommen, weil er in Lebensgefahr war; seine Camouflage als arisches

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