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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Mitglied einer musikalischen Wandertruppe bewahrte ihn vor dem Abtransport. Andreas und mein Vater? Welche Rechtfertigung für ihre Dienste hätten sie nennen können?
    Ich bin froh, dass ich auf diese Briefpassagen nicht schon in den Siebzigerjahren gestoßen bin. Es war die Zeit der Vatermorde, und auch ich lag mit meinem Vater in einem erbitterten Streit: über seine »autoritäre« Rolle als Vater und als Gatte, seine »falsche Gläubigkeit« an die Demokratie in der Bundesrepublik – allerdings fast nie über seine »Vergangenheit«, die ich für unproblematisch hielt. Bei einem unserer letzten Spaziergänge bot er mir mit leiser Stimme an, unsere Beziehung abzubrechen, wenn ich ihn nur so und nicht anders sehen könne. Damals habe ich mich für ihn entschieden – und gegen meine unumstößlichen Ansichten. Hätte ich gewusst, dass er im Führerhauptquartier in die Tasten gegriffen hatte, ich hätte sein Angebot zum Abbruch der Beziehungen womöglich angenommen.
    Und jetzt?
    Esist nicht wahr, dass das Altern das Urteil über ein Versagen mildert. Wohl aber schafft es Raum für ein Misstrauen gegen den Triumph der Selbstgerechtigkeit.
    Ich sehe ein junges mittelloses Elternpaar, das einen Hausstand gründen will. Einen ehrgeizigen Musiker, der von seinen Fähigkeiten überzeugt ist und Karriere machen will. Eine Mutter, die an diesem Besuch offenbar nichts verwerflich findet und den mitgebrachten Rotwein gerne trinkt. Hätte nicht allein das Wort »Führerhauptquartier« bei den beiden alle Alarmglocken schrillen lassen müssen?
    Wir, die Nachgeborenen der sogenannten Nazi-Generation, sind geneigt und durch zahllose Dokumentationen dazu erzogen, die Verstrickungen der Eltern in das ungeheuerste Verbrechen der bekannten Geschichte von den Ergebnissen her zu beurteilen, die inzwischen vor aller Augen liegen. Und wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zum Urteil über diese Verbrechen.
    Aber dieses Recht und diese Pflicht entheben mich nicht der Aufgabe, mich in die Ausgangslage meiner Eltern zu versetzen. Oder sagen wir lieber: Sie verbieten mir nicht die Neugier für diese Ausgangslage. Welchen Klang hatte das Wort »Führerhauptquartier« damals für meinen Vater? War es ein Verbrechen, dass er und sein Freund dort aufspielten? Der Satz: Wehret den Anfängen! setzt auf das Wissen derer, die das Ende kennen. Er setzt darauf, dass sich die Geschichte wiederholt. Wie aber verhält es sich mit Anfängen, deren Ende unbekanntist, weil es noch nicht geschehen ist? Wir, die wir über unsere Eltern urteilen und urteilen müssen, stecken selber in Anfängen, deren Ende wir nicht kennen.
    Und doch hinterlässt der Auftritt des Vaters in der Wolfsschanze einen Schmerz. Ja, er ist nie in die Partei eingetreten, er hat den Krieg gehasst und ist ein unwilliger Soldat gewesen. Aber ein Mann des Widerstands war er nicht. Drei Jahre nach seinem Auftritt hat Graf von Stauffenberg an demselben Ort sein Attentat auf Hitler verübt.
    Vor allem in den ersten Jahren des Krieges feiert Heinrich seine größten Erfolge als Dirigent und Komponist. Rastlos komponiert er Ballette, reist von einem Opernhaus zum anderen, um Uraufführungen zu dirigieren, bereitet mit einem Librettisten mehrere große Opern vor, muss allerdings – ebenso wie Andreas – den Löwenanteil seiner Zeit den ungeliebten Operetten widmen, die der vom »Reichsdramaturgen« Joseph Goebbels beaufsichtigte Spielplan vorschreibt.
    Spätestens seit dem Familientreffen bei der Premiere in der Berliner Staatsoper hätte der Großvater genügend Gründe gehabt, seine Geringschätzung gegenüber dem Schwiegersohn zu revidieren. Aber sei es, dass der Alte zu unbeweglich war, sei es, dass seine Tochter ihm ihre Verstoßung nicht verzeihen konnte – es kommt nie mehr zu einer Annäherung oder gar Versöhnung. Ihrer flehentlichen Bitte kurz vor dem Ende des Krieges, ihr und seinen Enkelkindern sein Wochenendhausin Grainau als Fluchtort zu überlassen, hat er offenbar erst entsprochen, als eine Miete ausgehandelt war.
    Mein Bild vom Großvater ist durch eine Hose aus Hirschleder bestimmt, die wir auf dem Dachboden in Grainau fanden. Die Hose war so gewaltig, dass Anderl Ostler, bis heute der berühmteste Grainauer und schon damals ein dorfbekanntes Schwergewicht, zweimal hineingepasst hätte. Später hat Anderl Ostler mit einer Viererbob-Mannschaft aus Übergewichtigen die erste Goldmedaille für Deutschland gewonnen. Je größer das Gewicht auf dem Bob, hatte

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