Die Lieben meiner Mutter
schweigen. Was ihnen vorschwebt, ist, lange bevor das Wort in Berlin Karriere machen und eine neue Lebensform beschreiben wird, eine Kommune deutscher Flüchtlinge an der französischen Riviera. Dort, am sonnigen Mittelmeer, soll die Herzensgemeinschaft zusammenfinden und einen neuen Anfang machen.
Dass diese Pläne nicht gerade realistisch sind, ist beiden klar. Aber ist es nicht besser, irgendwelchen Plänen nachzuhängen,als sich verloren zu geben, fragt die Mutter in einem ihrer Briefe.
Sind nicht die Bande unter Gleichgesinnten das einzig Tröstende und Verläßliche in diesen Zeiten? Wichtiger als Erfolg, ja selbst als das Essen, da doch jeder Tag den Untergang und die vollständige Vernichtung bringen kann? Woran sonst soll man sich halten? Das Wissen um die ausgesprochenen und unausgesprochenen Bindungen menschlicher Herzen, um die gelebten und unausgelebten liebenden Kräfte dieser Welt –, ist dies nicht das einzige, das wir aller Zerstörung entgegenzusetzen haben?
Dennoch sind die beiden Freundinnen nicht frei von Eifersucht und Misstrauen. Die gemeinsame Leidenschaft für Andreas ist das prekäre Band, das sie eint und immer wieder trennt. Linda geht mit ihren Gefühlen für den Begehrten pragmatischer um als die Mutter. Schmerzlich genug hat sie erfahren, dass er in Wahrheit mit der Oper verheiratet und in der Liebe ein unzuverlässiger Geselle ist. Um sich selbst zu retten, hat sie sich mehrfach von ihm abgewendet, ohne ihn je aufzugeben. Mit Teilnahme, aber auch mit Sorge beobachtet sie die Hingabe ihrer Freundin, die Andreas so bedingungslos liebt, dass ihr ein Rückzug unmöglich wird.
Die kinderlose Linda hat in ihrem jungen Leben viele Liebhaber gehabt und über manchen Liebesschwur gelacht. Sie folgte den Gelegenheiten, die sich für eine attraktive freie Bühnenbildnerin in der korrupten, auf Beziehungen und Empfehlungen gegründeten Theaterwelt des Dritten Reichs ergaben. Eine so einseitige, Himmelund Erde umstürzende Entschlossenheit zur Liebe wie die, zu der die Mutter sich bekennt, ist ihr fremd. Besonders deren trotzig vorgetragene Devise: Je schwieriger und aussichtsloser die Situation, desto kompromißloser werde ich.
Sie warnt ihre Freundin: Muss man nicht gerade einem über alles geliebten Menschen den Raum lassen, Nein zu sagen? Ihm das Recht einräumen, die ihm angetragene Liebe abzulehnen?
Gleichzeitig mag die Radikalität der Mutter in Linda auch einen Zweifel angestoßen haben. Kann es sein, dass deren Bereitschaft, ihr Schicksal auf Gedeih oder Verderb in Andreas’ Hände zu legen, den ewig Schwankenden doch irgendwie gefangen nimmt? Dass sie ihn auf diese Weise an sich bindet? Braucht dieser Bindungsunfähige womöglich gerade diese Herausforderung –das Selbstopfer einer Mutter mit vier Kindern –, um im Innersten erschüttert zu werden und sich endlich zu bekennen?
In einem Brief aus dem Krankenhaus hat die Mutter dem Geliebten über zwei Bücher berichtet, die er unbedingt lesen müsse. Bücher sind für sie – nächst den Menschen, denen sie vertraut – die einzigen Ratgeber, aus denen sie Auskünfte für ihr geistiges und physisches Überleben zieht. Ihren letzten Klinikaufenthalt, schreibt sie Andreas, habe sie vor allem dank dieser beiden Bücher überstanden. Nach ihrer Entlassung hat sie versucht, ihm die Bücher mit der Post zu schicken. Sie ist überzeugt, dass er die Bücher haben muss, obwohlsie fürchtet, dass er vielleicht gar nicht mehr zum Lesen kommen wird, weil man auch ihm in seinem Lazarettlager bald ein Gewehr in die Hand drücken wird. Da die Post die Sendung nicht angenommen hat, bietet sie an, die Bücher selbst zu ihm zu bringen. Hab keine Angst, ich gebe sie nur an der Pforte ab und fahre sofort wieder zurück.
Allerdings sei sie nicht sicher, ob sie die Reise gesundheitlich schaffen werde. Liebster Mensch – hätten wir doch alles überstanden. Der Tod kann nicht so trennen wie das Leben – wie zerknülltes, zertretenes Papier weht es uns voneinander.
Sie muss nach ihrer Entlassung gleich wieder zur Nachuntersuchung in die Klinik. Die Überbringerin der beiden Bücher wird Linda sein.
9
Der gefeierte, inzwischen krankgeschriebene Opernregisseur hat es auch in dem kleinen Kurort sogleich zu einiger Prominenz gebracht. Seine bunten Abende und seine Improvisationen auf dem Klavier werden rasch so populär, dass kein Patient, der noch aus seinem Bett aufstehen kann, sie missen will. Er schreibt Couplets und Kabarettnummern, verschränkt
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