Die Liebenden von Leningrad
»Nein«, gab Tatiana zurück.
Sie traten auf einen schmalen Balkon hinaus, der um die Kuppel herumlief. Er hatte ein niedriges Eisengeländer. Der Blick von hier oben wäre fantastisch gewesen, wenn nicht alle Lichter erloschen gewesen wären. In der dunklen Nacht konnte Tatiana noch nicht einmal die Luftschiffe erkennen, die geräuschlos am Himmel entlangsegelten. Die Luft war kühl und roch angenehm frisch.
»Na, wie findest du die Aussicht? Ist es nicht schön hier oben?«, fragte Alexander und trat neben sie. »Hmm«, erwiderte sie und spähte ins Dunkel. »Was machst du hier oben so ganz allein, Nacht für Nacht?« »Nichts Besonderes. Auf dem Boden sitzen, rauchen, nachdenken ...«
Alexander zog sie an sich. Er drückte seine Lippen auf ihren Nacken und flüsterte ihren Namen.
Wie sehr hatte sie sich nach seinen Umarmungen gesehnt! Am liebsten wäre sie einfach zu Boden gesunken. »Shura, warte!«, bat sie und ihre Stimme klang heiser. Tatiana schloss die Augen und murmelte: »Ich kann gar keine Flugzeuge sehen.« »Ich auch nicht.«
»Werden sie überhaupt kommen?«, hauchte sie. »Ja. Der Feind steht vor den Toren.« Er küsste sie immer wieder auf den Nacken.
»Glaubst du, wir haben noch eine Chance, hier herauszukommen?«
»Nein, dafür ist es endgültig zu spät.« Sein heißer Atem und seine feuchten Lippen ließen sie erschauern. »Alexander, du hast gesagt, du wolltest mit mir reden ...« »Reden?«, fragte Alexander verständnislos und drückte sie fest an sich.
»Ja, erinnerst du dich nicht mehr?«
Er zog ihre Bluse herunter und küsste sie aufs Schulterblatt. »Deine Bluse gefällt mir«, flüsterte er, die Lippen dicht an ihrer Haut.
»Hör auf, Shura, bitte!«
»Nein«, entgegnete er und seine Lippen streiften ihren Rücken. »Ich kann nicht.« Er atmete in ihre Haare. Alexanders Hände glitten zu ihren Brüsten hinunter und unwillkürlich stöhnte Tatiana auf. Er zog sie noch dichter an sich heran, küsste ihren Hals und flüsterte: »Psst, du darfst keinen Laut von dir geben! Unten kann man alles hören.« »Dann musst du mich loslassen«, wisperte Tatiana. »Oder mir den Mund zuhalten!«
»Dann halte ich dir lieber den Mund zu«, verkündete er und küsste sie erneut leidenschaftlich.
Tatiana hatte das Gefühl, sie müsse jeden Augenblick ohnmächtig werden. »Shura, wir müssen aufhören«, keuchte sie. »Nein«, sagte er und küsste sie weiter.
»Ich meine etwas anderes. Ich meine unsere gesamte Situation! Ich kann doch nicht meine Tage damit zubringen, immer nur an dich zu denken. Ich kann meine Gefühle nicht ständig vor den anderen verstecken.«
Alexander blickte sie an. »Ich möchte dir zeigen, wie wir Erlösung finden, Tania.« Er presste sich an sie. Tatiana fielen Marinas Worte ein. Für einen Soldaten bist du nur eine Eroberung. Und obwohl sie wusste, dass Alexanders Gefühle für sie aufrichtig waren, gewann die Angst die Oberhand. Sie schob ihn weg. »Was ist denn los?«, fragte er überrascht. Tatiana suchte nach den richtigen Worten. Sie wollte ihn auf keinen Fall verletzen.
Zärtlich liebkosten seine Hände ihren Körper. »Tania, sag mir, was los ist!«
Sie trat einen Schritt zur Seite. »Hör einfach auf, ja?«
Sie setzte sich ein paar Meter entfernt von ihm auf den Boden und zog die Knie an die Brust.
»Erzähl mir von Dimitri«, bat sie erschöpft.
»Nein.« Alexander verschränkte die Arme. »Erst, wenn du mir sagst, was dich quält.«
Tatiana schüttelte den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen und lächelte mühsam.
»Es ist nichts.«
»Das glaube ich dir nicht!«
Tatiana blickte auf ihren langen braunen Rock, unter dem ihre Zehen hervorlugten. Sie holte tief Luft. »Shura, es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen.«
»Versuch es trotzdem!«, ermunterte er sie und hockte sich ebenfalls auf den Boden.
»Es gibt so viele wichtige andere Dinge, die wir besprechen müssen ...« Tatiana warf ihm einen raschen Blick zu. Er musterte sie mit einer Mischung aus Neugier und Sorge. »Ich kann es nicht fassen, dass ich unsere kostbare Zeit mit solchen Banalitäten verschwende ...« Sie brach ab. »Also, meine Kusine Marina hat mich heute hierher begleitet.« Alexander nickte. »Gut. Aber was hat das mit uns zu tun?« »Sie hat mir einige Dinge über Soldaten erzählt ...« Tatiana blickte ihn an. Über Alexanders Gesicht glitt ein Schatten. Er wirkte zugleich verärgert und schuldbewusst. »Sie wollte mich warnen. Sie hat gesagt, Soldaten sähen alle
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