Die Liebenden von Leningrad
Krasnodar am Schwarzen Meer. Ich wollte in den Süden nach Georgien und von dort aus in die Türkei. Ich hoffte, irgendwo im Kaukasus die Grenze überqueren zu können.« »Aber du hattest doch kein Geld!«
»Nein«, sagte Alexander. »Allerdings habe ich unterwegs ein wenig verdient. Und ich hoffte, mein Englisch würde mir in der Türkei vielleicht nützlich sein. Aber in Krasnodar schlug das Schicksal zu.« Er blickte Tatiana an. »Es war ein bitterkalter Winter und die Familie, bei der ich wohnte, die Belows ...« »Die Belows?«, rief Tatiana erstaunt.
Alexander nickte. »Eine nette Bauernfamilie: Vater, Mutter, vier Söhne, eine Tochter.« Er räusperte sich. »Kurz darauf wurde der ganze Ortsteil - das waren dreihundertsechzig Einwohner -vom Typhus heimgesucht! Achtzig Prozent der Dorfbevölkerung starben, darunter auch die Belows. Der Gemeindevorsteher von Krasnodar brannte mit Hilfe der Polizei den ganzen Ort nieder, aus Angst, dass sich die Epidemie auf die Stadt ausbreiten könnte. All meine Kleider wurden verbrannt und ich wurde unter Quarantäne gestellt. Ich wurde wieder gesund. Und der Ortsvorsteher stellte mir neue Papiere aus. Ohne eine Minute zu zögern gab ich an, ich sei Alexander Below. Da kaum einer aus dem Ort überlebt hatte, gab es niemanden, der meine Angaben widerlegte.«
Tatiana schwieg betreten.
»Ich bekam also einen neuen Pass und eine neue Identität. Ich war der Waise Alexander Nikolajewitsch Below, geboren in Krasnodar.«
»Und wie lautet dein vollständiger amerikanischer Name?«, erkundigte sich Tatiana leise. »Anthony Alexander Barrington.« »Anthony!«, rief sie aus.
»Anthony heiße ich nach dem Vater meiner Mutter. Aber alle haben mich Alexander genannt.« Er zog eine Zigarette aus dem Päckchen hervor. »Du hast doch nichts dagegen?« Tatiana schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Ich kehrte schließlich nach Leningrad zurück und wohnte bei Verwandten der Belows. Ich musste einfach dorthin Alexander zögerte. »Ich erzähle es dir später. Ich wohnte bei Tante Mira und ihrer Familie in Vyborg. Sie hatten ihren Neffen zehn Jahre lang nicht gesehen, es war ideal!« Er lächelte. »Ich beendete die Schule und dort lernte ich Dimitri kennen.« »Alexander, ich kann gar nicht glauben, was du alles durchgemacht hast!«
»Ich bin noch lange nicht fertig. Dimitri war einer der Jungen, mit denen ich in der Schule spielte. Er war dünn und bei den anderen unbeliebt. Wenn wir Krieg spielten, war er immer derjenige, der gefangen genommen wurde ...« »Bitte, erzähl weiter!«
»Irgendwann fand ich heraus, dass sein Vater als Gefängniswärter in Spalerka arbeitete.« Alexander hielt inne. Tatiana stockte der Atem. »Lebten denn deine Eltern noch?« »Das wusste ich eben nicht«, antwortete Alexander. »Also beschloss ich, mich mit ihm anzufreunden. Ich hoffte, dass ich durch ihn vielleicht meinen Vater oder meine Mutter noch einmal sehen könnte. Ich wollte sie wissen lassen, dass es mir gut ging.« Er schwieg. »Vor allem meine Mutter ...« Mühsam beherrschte er seine Stimme. »Wir ... wir standen uns sehr nahe.«
Tatiana hatte Tränen in den Augen. »Und dein Vater?« Alexander zuckte mit den Schultern. »Wir hatten in den Jahren zuvor öfter einige Konflikte gehabt. Das Übliche: Er wusste immer alles besser und ich wollte nicht auf ihn hören.« »Shura, deine Eltern müssen dich sehr geliebt haben.« Tatiana schluckte.
»Ja«, erwiderte Alexander und nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Sie haben mich geliebt.« Tatiana rang um ihre Fassung.
»Nach und nach gewann ich Dimitris Vertrauen und wir wurden enge Freunde«, fuhr er fort. »Dima schmeichelte es sehr, dass ich ihn zu meinem besten Freund erkoren hatte.« »Du musstest Dimitri also anvertrauen, wer du warst!« Tatiana schlang einen Arm um ihn. Er legte den Kopf auf ihre Schulter.
»Ja. Ich hatte keine andere Wahl. Ich wollte schließlich meine Eltern wiedersehen.«
Alexander blickte auf seine Hände. »Allerdings war mir von Anfang an unwohl bei dem Ganzen. Mein Vater hatte mir beigebracht, niemandem zu trauen, und meine Erfahrungen hatten dies bestätigt. Aber es ist schwer, danach zu leben. Ich brauchte Dimitris Hilfe. Außerdem war ich sein Freund. Ich schwor ihm ewige Freundschaft, wenn er mir diesen Dienst erweisen würde.« Alexander zündete sich eine weitere Zigarette an. Tatiana wartete geduldig.
»Dimitris Vater, Viktor Chernenko, fand heraus, dass meine Mutter bereits tot war.«
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