Die Liebenden von Leningrad
Alexanders Stimme brach. »Mein Vater lebte noch, aber offenbar stand seine Hinrichtung unmittelbar bevor. Er war schon seit fast einem Jahr im Gefängnis. Chernenko nahm Dimitri und mich mit nach Spalerka. Uns wurde gestattet, dem ausländischen Infiltrator Harold Barrington einen kurzen Besuch abzustatten. Mein Vater und ich durften selbst in diesen fünf Minuten nicht allein sein.« Tatiana ergriff Alexanders Hand.
Alexander starrte vor sich hin. »So war es«, sagte er betont gleichmütig.
In einer kleinen grauen Betonzelle traf Alexander seinen Vater wieder. Harold Barrington sab Alexander an, er rührte sich nicht von der Stelle. Eine einzelne Glühbirne hing von der Decke. Dimitri wandte sich an Harold: » Wir haben nur eine Minute Zeit, Genosse.«
Harold drängte die Tränen zurück. »Danke für euren Besuch. Es freut mich, euch zu sehen. Wie ist dein Name?«, fragte er an Dimitri gewandt. »Dimitri Chernenko.«
»Und dein Name?« Zitternd blickte Harold Alexander an. »Alexander Below«, antwortete Alexander. Harold nickte.
Der Wärter sagte: »Der Gefangene hat jetzt genug geschwatzt. Gehen wir!«
Dimitri erwiderte: »Warten Sie! Wir wollten dem Genossen noch sagen, dass wir ihn trotz seiner Verbrechen gegen unsere Gesellschaft nicht vergessen werden.«
Alexander schwieg und sah seinen Vater unverwandt an. »Wir werden ihn wegen seines Verbrechens gegen unsere Gesellschaft nicht vergessen«, korrigierte der Wärter. Harold starrte Alexander und Dimitri unvermindert an. »Popow, darf ich ihnen die Hände schütteln?«, fragte er schließlich.
Der Wärter zuckte mit den Schultern und trat einen Schritt vor. »Meinetwegen, aber ich werde Sie beobachten. Und beeilen Sie sich!«
Alexander sagte: »Ich habe noch nie jemanden englisch sprechen hören, Genosse Barrington. Können Sie für uns etwas auf Englisch sagen?«
Harold trat auf Dimitri zu und schüttelte ihm die Hand. »Danke«, sagte er zu ihm auf Englisch.
Dann gab er auch Alexander die Hand und drückte sie fest. Alexander nickte beruhigend mit dem Kopf. Auf Englisch flüsterte Harold dann: »Oh wäre ich doch für dich gestorben, o Absalom, mein Sohn, mein Sohn!« »Hör auf!«, warnte Alexander, unhörbar für die anderen. Harold ließ Alexanders Hand los und machte einen Schritt zurück, wobei er sich sichtlich bemühte, seine Tränen zu unterdrücken. »Ich sage euch etwas auf Englisch«, erklärte er dann. »Ein paar Zeilen von Kipling.«
»Es reicht«, unterbrach ihn der Wärter. »Ich habe keine Zeit mehr.«
»Auch wenn du nicht erträgst, wie Schurken deine Wahrheit verdrehen, damit die Narren ihnen in die Falle gehen ...«, zitierte Harold mit durchdringender Stimme. Tränen rollten über seine Wangen. »... oder wie sie das zerstören, für das du dein Leben hingabst ...« Jetzt flüsterte er nur noch. »Sohn! -Beuge dich zum Schein und bau mit stumpfem Werkzeug wieder auf.« Harold schlug ein Kreuz über Alexanders Kopf. »Schluss jetzt!«, donnerte der Wärter. »Ich liebe dich, Dad!«, formten Alexanders Lippen lautlos. Dann gingen sie hinaus.
Tatiana weinte. Alexander legte den Arm um sie. »Ach, Tania ...« Er wischte ihr die Tränen ab. »Ich habe mich damals so verzweifelt bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren, dass mir dabei ein Stück meines Zahns abgebrochen ist. Hier, siehst du?« Er zeigte ihr seinen oberen Eckzahn. »Jetzt weißt du alles. Ich habe meinen Vater noch einmal gesehen, bevor er starb, und ohne Dimitri hätte ich das nie geschafft.« Seufzend entzog er ihr seinen Arm.
»Alexander, du hast etwas Unglaubliches für deinen Vater getan«, sagte Tatiana und schmiegte sich an ihn. Ihre Lippen bebten. »Du hast ihm vor seinem Tod Trost gegeben.« Überwältigt von ihren Gefühlen, ergriff sie Alexanders Hand und küsste sie. Dann räusperte sie sich und errötete. Liebevoll blickte Alexander sie an.
Nach einer Weile brach er das Schweigen. »Es gibt noch mehr zu erzählen.«
Sie nickte. »Den Rest kann ich mir zusammenreimen.« Tatiana ergriff Alexanders Zigarettenpäckchen und holte eine Zigarette heraus. Mit zitternden Händen steckte Tatiana Alexander die Zigarette in den Mund und zündete sie ihm mit seinem Feuerzeug an. Als er inhalierte, küsste sie ihn auf die Wange. »Danke«, sagte Alexander.
»Lass mich die Geschichte zu Ende erzählen! Du und Dimitri, ihr habt zusammen die Universität besucht und seid in die Armee eingetreten. Ihr seid zusammen auf die Offiziersschule gegangen, aber
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