Die Liebenden von Leningrad
Anfang September herrschte in Leningrad abends Ausgangssperre und die Lebensmittelrationen wurden weiter reduziert. Alexander kam nicht mehr jeden Tag vorbei. Einerseits war Tatiana erleichtert, nicht ständig mit seiner Anwesenheit konfrontiert zu werden, aber zugleich vermisste sie ihn. Wenn er kam, war er besonders zärtlich zu Dascha, vor allem in Gegenwart von Tatiana und Dimitri. Das war vortrefflich für den Plan, Dimitri auf eine falsche Fährte zu bringen. Dennoch litt Tatiana unsäglich.
Sie setzte ein tapferes Lächeln auf und wandte ihre gesamte Aufmerksamkeit Dimitri zu.
Dabei hatte sie das Gefühl, eine eiserne Faust presse ihr Herz zusammen. Aber sie spielte mit.
Sie liebte Alexander. Das war die einzige Wahrheit, an die sie sich klammern konnte.
Nachdem sie erfahren hatten, dass Pascha tot war, arbeitete Papa nur noch sporadisch, da er oft betrunken war. Seine ständige Anwesenheit machte es Tatiana schwer, die Hausarbeit zu verrichten und sich überhaupt in der Wohnung aufzuhalten. Nur die Stunden auf dem Dach verschafften ihr eine gewisse Ruhe. Aber in ihrem Innern herrschte ein maßloses Chaos. Wenn sie auf dem Dach saß, schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sie mit Alexander spazieren ging. Sie liefen den Newskij Prospekt entlang bis zum Palast. Sie schlenderten über die Fontanka-Brücke, durch den Sommergarten und zurück zum Ufer.
Im Geiste ging sie immer wieder alle Straßen entlang, die sie während ihres gemeinsamen Sommers passiert hatten, und vernahm dabei den Widerhall von Schüssen und Explosionen. Es war ein winziger Trost, dass sie dem Artilleriefeuer nicht so unmittelbar ausgesetzt war wie damals in Luga, Aber auch Alexander war nun weit entfernt von ihr ...
Seine Besuche wurden immer seltener. Tatiana vermisste ihn urtd wünschte sich, wieder einmal wenigstens für einen Moment mit ihm allein zu sein. Sie wollte sich vergewissern, dass der Sommer 1941 keine Illusion gewesen war, dass es wirklich eine Zeit gegeben hatte, in der sie über die Kanalmauer balanciert war, während er ihr lachend zusah. In der letzten Zeit hatte sie nichts mehr zu lachen. »Die Deutschen sind doch noch nicht hier, nicht wahr?«, erkundigte sich Dascha bei Alexander, während sie Tee tranken. »Werden wir von Leeb zurückdrängen?« »Ja«, erwiderte Alexander. Tatiana hingegen wusste es besser. Finster beobachtete sie, wie Dascha Alexander liebkoste. Sie wandte die Augen ab und fragte Dimitri: »Hey, willst du einen Witz hören?«
»Was? Nein, jetzt nicht! Ich bin nicht in der Stimmung.« »Na gut, dann eben nicht«, erwiderte sie. Marina hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Tatiana wusste nicht, was aus ihren Plänen, zu ihnen zu ziehen, geworden war. Vera und die anderen Schwestern im Krankenhaus wiederum hatten große Angst wegen des Krieges. Die gesamte Stadt schien den Atem anzuhalten.
Vier Abende hintereinander bereitete Tatiana das Abendessen zu. Das Öl wurde immer knapper.
»Was zum Teufel kochst du da für uns, Tania?«, wollte Mama wissen.
»Nennst du das etwa Kochen?«, bemerkte Papa.
»Wo ist denn eigentlich das Öl? Ich kann noch nicht einmal mein Brot tunken.«
»Es gab keins«, erwiderte Tatiana.
Im Radio verlasen die Sprecher lauter deprimierende Nachrichten. Nachdem Mga Ende August gefallen war, hatten die Deutschen Dubrowka unter Beschuss genommen. Das war eine schlimme Meldung, denn Tatianas Großmutter mütterlicherseits, Babuschka Maya, lebte dort. Es war ein ländlicher Ort auf der anderen Seite der Newa. Am 6. September schließlich fiel Dubrowka. Doch obwohl die Deutschen den Ort niederbrannten, gelang es Babuschka Maya zu entkommen. Nun wollte sie bei der Familie ihrer Tochter wohnen.
Babuschka bekam das Zimmer, das die Großeltern bewohnt hatten. Mama und Papa zogen wieder zu Dascha und Tatiana. Der Vorteil für Tatiana bestand darin, dass Dascha sich ab sofort nicht mehr mit Alexander zurückziehen konnte. Babuschka hatte ihren ersten Mann um die Jahrhundertwende geheiratet und mit ihm eine Tochter, Tatianas Mutter, bekommen. Nachdem er im Krieg von 1905 verschollen war, heiratete sie nicht wieder. Sie lebte aber dreißig Jahre lang mit Michail zusammen, der an Tuberkulose erkrankte. Tatiana hatte sie einmal gefragt, warum sie Michail nicht heiratete. Babuschka Maya hatte geantwortet: »Und wenn mein Fedor zurückkommt, Taneschka? Dann hätte ich ein Problem!« In ihrer Jugend begann Babuschka zu malen und studierte Kunst. Ihre Bilder wurden vor der
Weitere Kostenlose Bücher