Die Liebenden von Leningrad
deinen Seelenfrieden?«, fragte Tatiana eines Abends, während sie Babuschka die langen Haare bürstete, die gerade erst begannen, grau zu werden. »Ich bin zu alt, um mich zu ängstigen, Sonnenschein«, erwiderte Babuschka. Sie lächelte. »Ich habe schon den größten Teil meines Lebens hinter mir.« Sie streichelte Tatianas Wange. »Babuschka, sag doch nicht so was!« Tatiana umarmte ihre Großmutter. »Was ist denn, wenn Fedor zurückkommt?«
Babuschka Maya strich Tatiana über das Haar und sagte: »Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mehr leben will!«
Tatiana machte sich Sorgen um Marina. Sie war den ganzen Tag in der Universität und besuchte danach ihre Mutter im Krankenhaus. Abends kam sie völlig erschöpft nach Hause und ging früh schlafen.
Die Abende verliefen immer gleich: Mama nähte, Papa trank so lange, bis er bewusstlos auf dem Sofa zusammensackte. Zuvor schrie er seine ganze Wut und Trauer hinaus. Dascha und Tatiana hörten sich währenddessen ungerührt die Nachrichten im Radio an. Während der Luftangriffe schlich Tatiana aufs Dach hinauf.
Auch tagsüber ertönten ständig die Sirenen. Es war nie völlig still in Leningrad.
Tatiana arbeitete, holte die täglichen Rationen für die Familie ab und versuchte ansonsten ihr Leben zu führen, wie sie es bisher auch getan hatte.
Die Zimmerverteilung hatte sich ein wenig geändert. Babuschka Maya hatte ein Zimmer für sich allein. Mama schlief auf dem Sofa und Papa auf Paschas Liege. Tatiana, Marina und Dascha schliefen zusammen im selben Bett. Tatiana war fast dankbar für den Puffer zwischen ihr und Dascha. So musste sie ihrer Schwester nicht allzu nahe kommen. Eines Nachts kletterte Dascha einfach über Marina hinweg und schlang die Arme um Tatiana. »Tania, Liebes, schläfst du - schon?« »Nein. Was ist?«
»Glaubst du, sie werden sterben?«, fragte Dascha in der Dunkelheit.
»Mädels, ich muss morgen früh aufstehen«, maulte Marina. »Schlaft jetzt!«
Tatiana hörte Dascha leise wimmern.
»Vielleicht sind sie ja schon tot«, klagte sie und hielt Tatiana fest umklammert.
Tatiana holte tief Luft. »Nein, es geht ihnen bestimmt gut!« Sie wollte mit Dascha nicht über Alexander reden. Sie versuchte, ihre Schwester abzulenken. »Dascha, mach dir lieber Gedanken um unser Leben! Im Krankenhaus haben sie mich übrigens gefragt, ob es mir etwas ausmachen würde, statt in der Küche bei den Bombenopfern zu helfen. Ich habe zugestimmt, aber dann habe ich gesehen, was von ihnen übrig geblieben ist. Es war furchtbar!« Tatiana schwieg. »Hast du gesehen, dass heute am Ligowskij Prospekt ein Haus eingestürzt ist?« »Nein.«
»Ein siebzehnjähriges Mädchen ist dabei ...« Tatiana verstummte.
»So alt wie du ...« Dascha drückte sie.
»Ja - sie war unter den Trümmern verschüttet. Ihr Vater hat den Feuerwehrleuten geholfen, sie auszugraben. Den ganzen Tag haben sie geschuftet. Als ich um sechs aus dem Krankenhaus kam, haben sie sie gerade herausgeholt. Aber sie war schon tot. Ein Loch in der Stirn ...« Dascha erwiderte nichts.
Plötzlich schaltete sich Marina ein: »Tania, hast du gerade gesagt, dass du um sechs aus dem Krankenhaus gekommen bist? Da war doch Fliegeralarm! Bist du nicht in den Luftschutzkeller gegangen?«
»Marinka, sie ist unverbesserlich«, warf Dascha ein. Sie flüsterte in Tatianas Haar: »Wenn du nächstes Mal nicht in den Keller gehst, dann verpetze ich dich!«
In dieser Nacht weckten die Sirenen sie um drei Uhr früh. Tatiana drehte sich zur Wand und hätte weitergeschlafen, wenn die anderen sie nicht aus dem Bett gezerrt hätten. Alle Hausbewohner drängten sich unter der Treppe und Tatiana hatte das Gefühl, es keine Sekunde länger aushalten zu können.
Alexander und Dimitri kamen am Abend des 12.. September nach Leningrad, dem ersten Tag, an dem keine Bomben gefallen waren. Sie waren nur für einen Abend aus Dubrowka gekommen, um mehr Männer und Artilleriewaffen aus der Garnison zu holen.
Alexander betrat die Wohnung und Dascha, die vor lauter Erleichterung in Tränen ausbrach, ließ ihn fortan keine Sekunde mehr los. Sie weigerte sich sogar, bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen. Dimitri klammerte sich an Tatiana, aber während Alexander es fertig brachte, Daschas Umarmung zu erwidern, stand Tatiana stocksteif da und ihr Blick schweifte Hilfe suchend im Zimmer umher.
»Schon gut, es ist ja alles gut«, sagte sie und vermied es verbissen, Alexander anzusehen. Trotz der unangenehmen Situation war
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