Die Liebenden von Leningrad
ich habe dir ein neues Englisch-Russisches Konversationsbuch mitgebracht«, sagte er leise. »Hast du weiterhin Englisch gelernt?«
»Nein«, erwiderte Tatiana. »Ich hatte keine Zeit. Ich kann gar nicht glauben, dass du das alles getragen hast. Es war bestimmt sehr schwer. Danke für die Sachen! Und nun komm mit nach draußen.«
Naira war mit einem Handtuch zurückgekehrt. Alexander und Tatiana gingen über die Veranda zur Hintertreppe. Alexander hielt sich so nahe wie möglich bei Tatiana, doch er wusste, dass sechs Augenpaare sie von der Veranda aus beobachteten. Tatiana zeigte ihm den Weg, aber Alexander sah kaum hin, weil er ihre blonden Augenbrauen betrachtete. Er hätte sie gern berührt.
Er hielt den Atem an und fuhr mit dem Finger über die blasse Narbe, die von dem Streit mit ihrem Vater herrührte. »Sie ist fast nicht mehr zu sehen«, sagte er leise. »Wenn du sie nicht sehen kannst«, entgegnete Tatiana, »warum berührst du sie dann?« Sie hielt die Augen gesenkt. »Alexander, lass dir den Weg zum Fluss erklären. Geh über die Straße und folge dann dem Pfad durch das Fichtenwäldchen. Es sind ungefähr hundert Meter bis zur Lichtung am Fluss. Ich wasche dort immer die Wäsche. Du kannst es gar nicht verfehlen. Die Kama ist ein großer Fluss.«
»Ich werde mich bestimmt verirren«, sagte Alexander und flüsterte ihr ins Ohr: »Komm, zeig mir den Weg.« »Tania muss Abendessen kochen«, sagte Zoe, die zu ihnen getreten war. »Soll ich dir den Weg zeigen?« »Ja«, sagte Tatiana und wich zurück, »Zoe kann ihn dir zeigen. Ich muss jetzt wirklich kochen, wenn wir heute Abend etwas essen wollen.«
Alexander entgegnete: »Nein, Zoe. Entschuldige uns bitte.« Er zog Tatiana mit sich weg. »Komm mit mir zum Fluss«, drängte er. »Dann kannst du mir erzählen, warum du böse auf mich bist, und ich ...«
»Jetzt nicht, Alexander«, flüsterte Tatiana. Seufzend ließ er sie los und machte sich allein auf den Weg. Als er sauber und frisch rasiert zurückkehrte, stellte er fest, dass Zoe ihn mit interessierten Blicken verfolgte. Das überraschte Alexander nicht. In einem Ort, in dem es keine jungen Männer gab, wäre Zoe auch an ihm interessiert gewesen, wenn er nur ein Auge und keine Zähne gehabt hätte. Doch Tatiana weigerte sich hartnäckig, ihn überhaupt anzusehen. Während sie sich am Ofen mit den Pfannen zu schaffen machte, bewunderte er ihre Figur. Das gesunde Leben auf dem Dorf tat ihr sichtlich gut. Sie richtete sich auf und wollte zur Veranda gehen, aber er ergriff ihre Hand und drückte sie gegen seine Wange. »Findest du sie glatt rasiert besser?« Er rieb sich mit ihrer Hand über die Wange und küsste dann ihre Fingerspitzen. Tatiana zog die Hand weg. »Ich habe dich noch nicht so oft glatt rasiert gesehen«, murmelte sie. »Ich stinke nach Zwiebeln, Alexander. Ich will nicht, dass du wieder schmutzig wirst.« Sie räusperte sich und wandte den Blick ab.
»Tatia«, sagte er, ohne ihre mehlbestäubte Hand loszulassen, »ich bin es! Was ist eigentlich los mit dir?« Blinzelnd sah sie ihn an, und er begriff, dass sie verletzt war. Er setzte an: »Tatia, was ...«
»Alexander, Lieber, komm her zu uns. Lass Tania zu Ende kochen. Komm, trink etwas.«
Er trat auf die Veranda. Naira reichte ihm ein Glas Wodka. Kopfschüttelnd sagte Alexander: »Ich trinke nicht ohne Tatiana. Tania! Komm.« »Sie trinkt den nächsten mit uns.«
»Nein«, erwiderte er, »sie trinkt das erste Glas mit uns. Tania, komm heraus.«
Sie kam nach Zwiebeln riechend auf die Veranda und stellte sich neben ihn.
Naira sagte: »Unsere Taneschka trinkt doch gar nicht!« »Ich trinke auf Alexander«, sagte Tatiana leise. Alexander reichte ihr sein Wodkaglas, wobei seine Finger die ihren berührten. Naira schenkte ihm ein anderes Glas ein. Dann hoben sie die Glaser. »Auf Alexander«, sagte Tatiana mit schwankender Stimme. In ihren Augen standen Tränen. »Auf Alexander«, wiederholten alle. »Und auf Dascha.« »Und auf Dascha«, sagte Alexander leise. Als sie ausgetrunken hatten, ging Tatiana wieder ins Zimmer. Vor dem Essen kamen noch einige Leute aus dem Dorf vorbei, weil sie Alexander kennen lernen und ihm kleine Geschenke bringen wollten.
Eine Frau brachte ein Ei. Ein alter Mann brachte einen Angelhaken. Ein anderer eine Angelrute. Ein junges Mädchen einige Bonbons. Jeder schüttelte ihm die Hand, manche verbeugten sich, und eine Frau fiel sogar auf die Knie, bekreuzigte sich und küsste sein Glas. Alexander war
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