Die Liebenden von Leningrad
jedoch las er diese Antwort in ihren Augen, denn er ließ den Kopf sinken und stammelte: »Ich finde wohl nie die richtigen Worte.«
»Sag einfach gute Nacht«, erwiderte Tatiana kühl. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Tania, ich glaube, das ist der endgültige Abschied. Ich glaube nicht, dass wir einander wiedersehen.«
»Wenn es so sein soll, sehen wir uns auch wieder.« Tatiana schluckte. Sie fühlte sich wie betäubt, und ihre Beine trugen sie kaum noch.
Dimitri flüsterte: »Wo ich hingehe, Tatiana, wirst du mich nie wiedersehen.«
Als er endlich gegangen war, warf sich Tatiana auf ihr Bett und lag dort schlaflos bis zum Morgen.
Alexander saß in Morosowo hinter einem Tisch in seinem Offizierszelt, als Dimitri mit Zigaretten und Wodka hereinkam. Alexander trug seinen Mantel, und seine verletzten Hände waren gefühllos vor Kälte. Er wäre gern in die Lagerküche gegangen, um sich aufzuwärmen und etwas zu essen, aber er konnte sein Zelt nicht verlassen. Es war Freitag, und in einer Stunde kam General Goworow, um mit ihm über den bevorstehenden Angriff auf die Deutschen zu reden.
Es war mittlerweile November, und nach vier gescheiterten Versuchen, die Newa zu überqueren, wartete die 67. Armee jetzt ungeduldig darauf, dass der Fluss zufror. Das Kommando in Leningrad war zu dem Schluss gekommen, dass es einfacher war, mit Infanterie anzugreifen als von den Pontonbooten aus, die ein zu leichtes Ziel boten.
Dimitri stellte die Wodkaflaschen, den Tabak und das Zigarettenpapier auf den Tisch, und Alexander bezahlte ihn. Er wollte, dass Dimitri gleich wieder ging. Er las gerade einen Brief von Tatiana, der ihn verwirrte. In den Wochen, in denen er im Lazarett gelegen hatte, hatte er ihr nicht geantwortet, obwohl ihm die Krankenschwestern angeboten hatten, die Briefe für ihn zu schreiben. Aber er hatte sich vorgestellt, dass Tatiana vor Sorge wahnsinnig werden würde, wenn sie einen Brief von ihm in einer anderen Handschrift bekam. Also hatte er bis zum Ende des Monats gewartet, bis er selbst wieder einen Stift in der Hand halten konnte.
Er hatte ihr geschrieben, dass Gott ihn durch seine Brandwunden beschützt hatte, weil er dadurch zwei katastrophalen Angriffen im September entgangen sei, die die Truppen in der ersten und zweiten Linie so gründlich dezimiert hatten, dass sie alle Reservekräfte aus der Garnison in Leningrad mobilisieren mussten. Die Wolkow-Front hätte der Leningrad-Front nur zu gern Männer zur Verfügung gestellt, aber es waren kaum noch welche am Leben. Da Hitler Manstein den Befehl gegeben hatte, die Newa und die Blockade um Leningrad um jeden Preis zu halten, gab es in Meretzkows zweiter Armee in Wolkow kaum noch Männer.
Stalingrad war dem Erdboden gleichgemacht worden. In der Ukraine war Hitler einmarschiert, und auch Leningrad behauptete sich nur noch mit Mühe. Die Rote Armee war aufs Äußerste geschwächt. Jetzt plante Goworow einen erneuten Angriff auf die Deutschen. Doch Alexander saß an seinem Tisch und grübelte darüber nach, was um alles in der Welt mit seiner Frau nicht stimmte.
Mittlerweile war es November, und in keinem ihrer Briefe, die mit schöner Regelmäßigkeit eintrafen, ging sie auch nur mit einem Wort auf seine Verwundung ein. Immer wieder versuchte ei; zwischen den Zeilen zu lesen. Aber jetzt stand Dimitri hinter ihm und machte keine Anstalten, wieder zu gehen. »Alexander, kannst du mir etwas zu trinken geben? Um alter Zeiten willen!«
Widerwillig schenkte Alexander ihm etwas ein. Für sich selbst nahm er auch ein kleineres Glas. Dimitri setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie redeten über die bevorstehende Invasion und über die schrecklichen Kämpfe mit den Deutschen auf der anderen Seite der Newa.
»Alexander«, fragte Dimitri leise, »wie kannst du hier nur so ruhig sitzen, wo du doch weißt, was dir bevorsteht? Ihr habt schon viermal versucht, die Newa zu überqueren, die meisten unserer Männer sind tot, und ich habe gehört, dass von diesem letzten Angriff niemand zurückkehren darf, bevor die Blockade nicht gebrochen ist. Hast du das auch gehört?« »Ja, so etwas Ähnliches habe ich auch gehört.« »Ich kann hier nicht mehr bleiben, ich will es einfach nicht. Es wird zu gefährlich, letzte Woche bin ich beinahe getroffen worden.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Alexander, es ist kaum zu glauben, wie ungeschützt das Gebiet um Lisiy Nos zurzeit ist! Ich bringe ja auch Waren zu unseren Grenztruppen und habe gesehen, dass
Weitere Kostenlose Bücher