Die Liebenden von Leningrad
drückte sich eng an ihn. Auf irgendeine Weise musste sie Alexander helfen. Nur wie? Wie konnte sie ihn retten? »Verstehst du nicht? Wir leben in unserem ganz eigenen Krieg. Der Kommunismus führt Krieg gegen dich und mich«, erklärte Alexander. »Deshalb wollte ich, dass du in Lazarewo bleibst. Ich habe nur versucht, mein Allerliebstes zu verstecken, bis der Krieg vorbei ist.«
»Du hast es am falschen Platz versteckt«, sagte Tatiana. »Du hast mir doch selbst gesagt, es gäbe in der ganzen Sowjetunion keinen sicheren Ort. Außerdem wird dieser Krieg lange dauern. Wir werden Zeit brauchen, um unsere Seelen zu heilen.« »Tania, es gab nur einen einzigen Moment ...« Alexander verstummte. Dann fuhr er fort: »Einen einzigen Moment, einen Augenblick, in dem ein anderes Leben noch möglich gewesen wäre.« Er küsste sie. »Weißt du, welchen Augenblick ich meine?« Als Tatiana aufblickte, sah sie, dass ein Soldat sie von der anderen Straßenseite aus anstarrte.
»Ja«, flüsterte Tatiana, »ich weiß, welchen du meinst.« »Tut es dir Leid, dass ich über die Straße gekommen bin?« »Nein, Shura«, flüsterte sie. »Bevor ich dich kennen lernte, konnte ich mir kein anderes Leben vorstellen als das, welches meine Eltern, meine Großeltern, Dascha, ich und Pascha geführt haben.« Sie lächelte. »Noch nicht einmal als Kind habe ich von jemandem wie dir geträumt. Du hast mir ein wunderbares Leben nahe gebracht ...« Sie blickte ihn an. »Was habe ich dir eigentlich jemals nahe gebracht?« »Dass es einen Gott gibt«, flüsterte Alexander. »Ja, es gibt einen Gott«, pflichtete Tatiana ihm bei. »Und du wirst sehen, wir werden es schon schaffen.« Sie drückte Alexander an sich. »Du wirst schon sehen, wir beide schaffen es.« »Und wie?«, fragte er.
Tatiana versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen, als sie erwiderte: »Wie, weiß ich noch nicht genau. Wir müssen einfach versuchen, den undurchdringlichen Nebel zu durchqueren. Du, Hauptmann, kämpfst für mich in diesem Krieg und bleibst am Leben, wie du es versprochen hast, und hältst dir Dimitri vom Leib ...«
»Tania, ich könnte ihn umbringen! Glaub nicht, dass ich noch nicht darüber nachgedacht hätte.«
»Kaltblütig? Das könntest du nicht. Und selbst wenn, was glaubst du, wie lange Gott dann noch seine schützende Hand über dich hielte in diesem Krieg? Und wie lange er mich noch beschützen würde?«
»Und was ist jetzt mit dir?«, fragte Alexander. »Ich nehme nicht an, dass du nach Lazarewo zurückkehren willst.« Tatiana schüttelte lächelnd den Kopf. »Mach dir um mich keine Gedanken. Nachdem ich den letzten Winter in Leningrad überlebt habe, bin ich auf das Schlimmste gefasst. Ich bin hier und ich bleibe hier. Und ich bin zu allem bereit.« Sie zog Alexander an sich. »Tut es dir Leid, dass du dich mir damals genähert hast, Soldat?«
Alexander nahm ihre Hand in beide Hände und erwiderte: »Tania, ich war vom ersten Augenblick an von dir verzaubert. In der Garnison war alles in Aufruhr, die Leute rannten verstört hin und her, hoben ihr Geld ab, kauften ein, meldeten sich freiwillig zur Armee, schickten ihre Kinder in Sommerlager ...« Er brach ab. »Und mitten in diesem Chaos sah ich dich! Du hast allein auf dieser Bank gesessen, so jung und blond und atemberaubend schön, und hast so hingebungsvoll an deinem Eis geleckt, mit einer solchen Verzückung, dass ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Als ob es nichts anderes auf der Welt gäbe als diesen Sonntag im Sommer. Du in deinen hochhackigen roten Sandalen und deinem schönen Kleid hast so vertrauensvoll auf der Bank gesessen ... Du schienst in dir zu ruhen, du sahst aus, als ob du deinen Weg in jedem Fall finden würdest. Deshalb bin ich über die Straße gekommen, Tatiana. Weil auch ich glaubte, dass du ihn finden würdest. Ich glaubte an dich.«
Alexander wischte ihr die Tränen aus den Augen, zog ihr den Handschuh aus und drückte einen Kuss auf ihre Hand. »Aber wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich an diesem Tag mit leeren Händen nach Hause zurückgekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du hättest am Ende auch allein alles erreicht. Weißt du, was ich dir bringe?« »Was?«
Von seinen Gefühlen überwältigt, erwiderte Alexander mit erstickter Stimme: »Opfergaben.«
Lange saßen sie eng aneinander geschmiegt auf der Bank unter einem grauen Novemberhimmel, wahrend der Wind die letzten toten Blätter von den Bäumen wehte.
Als Alexander wieder fort war,
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