Die Liebenden von Leningrad
das so weitergeht, wirst du bestimmt noch General. Danke, dass ich Oleg die Briefe geben darf Er ist sehr nett und höflich und gestern hat er mir sogar Eipulver geschenkt. Ich fand es erst ein bisschen komisch und wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Dann habe ich es mit Wasser gekocht und einfach so gegessen. Es hat ein wenig wie Gummi geschmeckt.
Aber Slawin hat es gemocht. Er sagte, Zar Nikolaus wäre in Swerdlowsk froh gewesen, wenn er so etwas gehabt hätte. Manchmal kenne ich mich mit unserem verrückten Slawin nicht aus.
Alexander, es gibt einen Ort, an dem es mir immer gut gehen wird. Dort kann ich schlafen und aufwachen, dort ist Frieden und Liebe - in deinen Armen. Tatiana
Im Dezember kam das Internationale Rote Kreuz ins Grecheskij -Krankenhaus.
Es gab zu wenige Ärzte in Leningrad. Von den dreitausendfünfhundert, die vor dem Krieg dort gearbeitet hatten, waren nur noch zweitausend da und eine viertel Million Menschen lagen in den Krankenhäusern in der Stadt.
Tatiana lernte Dr. Matthew Sayers kennen, als sie gerade eine Kehlkopfwunde bei einem jungen Obergefreiten auswusch. Noch bevor der Arzt den Mund aufmachte, hatte Tatiana schon das sichere Gefühl, dass er Amerikaner war. Und er roch so sauber! Er war dünn, klein und dunkelblond und sein Kopf wirkte ein wenig zu groß für seinen Körper, aber er strahlte ein solches Selbstbewusstsein aus, wie Tatiana es noch nie bei einem Mann erlebt hatte - außer bei Alexander. Er schlug das Krankenblatt auf, warf einen Blick auf den Patienten, blickte Tatiana an, schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf und sagte dann auf Englisch: »Das sieht ja nicht so gut aus.« Obwohl Tatiana ihn verstand, blieb sie stumm, weil sie an Alexanders Warnungen dachte.
Also wiederholte der Arzt in gebrochenem Russisch, was er gesagt hatte.
Tatiana erwiderte: »Ich glaube, er wird wieder gesund. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«
Laut auflachend sagte der Arzt: »Das glaube ich Ihnen. Das glaube ich Ihnen ohne weiteres!« Er streckte ihr seine Hand entgegen: »Ich bin vom Roten Kreuz. Dr. Matthew Sayers. Können Sie Sayers sagen?«
»Sayers«, wiederholte Tatiana mit perfekter Aussprache. »Sehr gut! Was heißt Matthew auf Russisch?« »Matwej.«
Er ließ ihre Hand los und wiederholte: »Matwej. Gefällt Ihnen das?«
»Ich finde Matthew schöner«, erwiderte sie und widmete sich wieder ihrem Patienten.
Tatiana hatte den Arzt richtig eingeschätzt. Er war kompetent und freundlich und verbesserte die Bedingungen in ihrem schlecht ausgestatteten Krankenhaus beträchtlich, weil er lauter Wunderdinge dabeihatte - Penicillin, Morphium und Blutkonserven. Was den Patienten anging, so hatte Tatiana auch Recht gehabt. Er überlebte.
Liebe Tania,
ich habe so lange nichts von dir gehört! Was machst du? Ist alles in Ordnung? Oleg hat mir erzählt, dass er dich schon seit Tagen nicht mehr gesehen hat. Eigentlich habe ich gar keine Zeit, mir um dich Sorgen zu machen, dazu passiert hier zu viel...
Meinen Händen geht es übrigens besser. Was deine angeht, so ist es mir egal, ob sie mittlerweile abgefallen sind - schreib mir sofort einen Brief! Für kurze Zeit verzeihe ich dir noch, dass du mir nicht geschrieben hast, aber ich weiß nicht, wie lange ich noch so nachsichtig sein kann.
Wie du weißt, ist es bald so weit. Ich brauche deinen Rat - wir schicken die beachtliche Vorhut von sechshundert Mann hinaus. Eigentlich ist das keine Vorhut, sondern eine echte Kampftruppe, und wir anderen warten im Hintergrund ab, wie sich die Deutschen dagegen verteidigen. Wenn alles gut geht, folgen wir ihnen.
Ich muss nun entscheiden, welches Bataillon gehen soll. Hast du einen Vorschlag?
Alexander
PS: Du hast mir immer noch nicht erzählt, was mit Stanislaw passiert ist.
Lieber Shura,
schick auf keinen Fall deinen Freund Marasow. Kannst du nicht stattdessen irgendwelche Nachschubeinheiten lossenden? Haha, schlechter Witz.
Wir sollten in dem Zusammenhang übrigens ruhig mal einen Gedanken daran verschwenden, dass unser rechtschaffener
Alexander Puschkin den Baron George d'Anthes zum Duell gefordert hat. Er hat es nicht überlebt und so konnte er kein Gedicht darüber schreiben. Anstatt nach Rache zu streben, sollten wir uns also lieber nur von denen fern halten, die uns schaden könnten.
Mir geht es gut. Ich habe im Krankenhaus viel zu tun und bin kaum zu Hause. Dort werde ich ja auch nicht gebraucht. Shura, mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich bin hier
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