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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
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ungefähr hundertfünfundzwanzig Kilometer lang vom Ilmensee bis nach Narva reichte. Ein paar Schützengräben, ein paar Gewehrstellungen und einige Panzergräben wurden ausgehoben, aber das war nicht annähernd genug. Als die Befehlshaber in Leningrad merkten, dass sie schnell handeln mussten, ließen sie die Panzersperren aus Karelien auf Laster verladen und nach Luga schaffen. Die ganze Zeit über wurde die Rote Armee zurückgedrängt. In heftigen Kämpfen schob sich das deutsche Heer vor, ohne auf allzu große Gegenwehr zu stoßen, denn die wenigen Panzer der Roten Armee reichten bei weitem nicht aus. Mitte Juli kämpften beinahe ausschließlich Soldaten mit Gewehren gegen die deutschen Panzereinheiten, gegen die mobile Artillerie, die Flugzeuge und die Infanterie. Den Sowjets gingen die Waffen und die Männer aus.
    Alle Hoffnung, die Front bei Luga zu verteidigen, konzentrierte sich jetzt auf die Armee der Freiwilligen, die weder ausgebildet waren noch Waffen trugen. Alte Männer und junge Frauen bewaffneten sich mit allem, was ihnen in die Hände fiel. Einige waren mit Schaufeln und Äxten ausgestattet, andere hatten noch nicht einmal das. Und so wollten sie Hitlers Armee begegnen.

Tatiana gehörte jetzt stets zu den Letzten, die die Fabrik verließen. Doch wenn sie langsam aus dem Tor trat, schaute sie sich noch immer erwartungsvoll um, in der Hoffnung, seine Gestalt vielleicht doch zu erblicken.
    Dann ging sie an der Kirow-Mauer entlang bis zur Bushaltestelle, setzte sich dort auf die Bank und wartete auf ihn. Nach einer Weile ging sie die acht Kilometer bis zur Fünften Sowjet zu Fuß und hielt die ganze Zeit nach ihm Ausschau. Überall meinte sie ihn zu sehen. Wenn sie dann gegen elf oder später nach Hause kam, war das Abendessen kalt. Ihre Familie lauschte angespannt den Radioberichten, aber niemand berührte das Thema, das all ihre Gedanken beherrschte - Pascha. Einmal kam Dascha in Tränen aufgelöst nach Hause und erzählte Tatiana, dass Alexander sich von ihr trennen wolle. Sie weinte heftig, während Tatiana ihr tröstend den Rücken tätschelte. »Aber ich gebe nicht auf, Tania. Ich nicht!«, verkündete Dascha entschlossen.
    »Er bedeutet mir viel zu viel. Er macht wahrscheinlich nur eine schwierige Phase durch. Er hat Angst vor einer Bindung, wie die meisten Soldaten. Aber ich gebe nicht auf. Er hat gesagt, er braucht Zeit zum Nachdenken. Das bedeutet ja schließlich nicht, dass es für immer ist. Bestimmt nur so lange, bis er sich alles überlegt hat, oder?« »Ich weiß nicht, Daschenka.«
    Kurz darauf kam Dimitri zu Besuch. Tatiana war ein wenig überrascht, dass er nicht öfter vorbeischaute. Er wirkte zerstreut. Über die Position der Deutschen in der Sowjetunion wusste er nichts. Als er sie am Ende des Abends auf die Wange küsste, empfand sie nichts als eine große innere Leere. Auf dem Dach hielten die Kinder aus dem Haus Ausschau nach Brandbomben, die sie löschen konnten. Es war still und außer dem Lachen von Anton und seinen Freunden hörte Tatiana nur das Klopfen ihres eigenen Herzens.
    Dort oben dachte Tatiana über den Abend nach, die Minute, in der sie aus dem Fabriktor trat, nach links blickte und Alexanders Gesicht in der Menschenmenge suchte. Die Minute, in der sie die Straße hinuntereilte, ihm entgegen, und lächelte. Nachts drehte sie sich immer noch zur Wand und wandte dem leeren Platz neben sich den Rücken zu. Dascha kam mittlerweile immer später nach Hause.
    Eines Morgens vernahmen die Metanows in den Radiomeldungen, dass die Deutschen weiter vorgerückt waren und trotz aller Gegenwehr der heroischen Sowjetsoldaten schon beinahe Luga erreicht hatten.
    Was würde aus Tolmachewo werden, wenn die Deutschen Luga niederwalzten? Was würde mit ihrem Sohn, ihrem Enkel, ihrem Bruder geschehen?
    Tatiana versuchte, die anderen zu trösten. »Pascha geht es bestimmt gut.« Als diese Worte nicht wirkten, versuchte sie es mit einer anderen Taktik: »Wir erreichen ihn schon. Ach, Mama, wein doch nicht! Ich kann spüren, dass ihm nichts passiert ist. Er ist mein Zwillingsbruder. Es geht ihm gut, ich sage es dir.« Doch all ihre Beruhigungsversuche scheiterten. Und obwohl Tatiana so tapfer tat, wuchs ihre Angst um ihren Bruder.
    Im örtlichen Sowjetbüro, das Tatiana zusammen mit ihrer Mutter aufsuchte, bekamen sie auch keine zufrieden stellende Antwort.
    »Was soll ich Ihnen sagen?«, fragte eine strenge Frau mit Schnurrbart. »In der Meldung heißt es nur, dass die Deutschen in der

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