Die Liebenden von Leningrad
Nähe von Luga sind. Von Tolmachewo ist überhaupt keine Rede.«
»Warum erreichen wir dann dort niemanden?«, wollte Mama wissen. »Warum funktionieren die Telefone nicht?«
»Bin ich Genosse Stalin? Was weiß ich!«
»Können wir nach Tolmachewo fahren?«, fragte Mama.
»Was soll das heißen? Wollen Sie etwa an die Front, Genossin?
Wollen Sie mit dem Bus zur Front fahren? Na, dann viel Glück!«
Der Schnurrbart der Frau zitterte, als sie in Lachen ausbrach. »Natalia, komm mal her, das musst du dir anhören!« Tatiana wollte etwas Grobes erwidern, hatte aber nicht den Mut dazu. Sie wünschte, sie hätte ihre Eltern früher überreden können, Pascha zurückzuholen.
An diesem Abend lag Tatiana neben Dascha mit dem Gesicht zur Wand und tat so, als ob sie schliefe. Doch sie hörte ihre Mutter leise schluchzen. Ihr Vater gab ein tröstendes »Sch, sch« von sich, aber dann begann auch er zu schluchzen und Tatiana wäre am liebsten weit weg gewesen. Sie hörte ihre Eltern miteinander flüstern.
»Vielleicht geht es ihm ja gut«, sagte ihre Mutter. »Vielleicht«, erwiderte ihr Vater.
»Oh, Georgi! Wir können doch nicht unseren Pascha verlieren.« Sie stöhnte. »Unseren Jungen.«
»Unseren Lieblingsjungen«, fügte Papa hinzu. »Unseren einzigen Sohn.«
Mama schluchzte wieder.
Tatiana hörte die Bettdecken rascheln. Ihre Mutter schniefte.
»Was ist das für ein Gott, der ihn uns wegnimmt?«
»Es gibt keinen Gott. Komm, Irina«, erwiderte Papa tröstend, »und sei nicht so laut. Du weckst die Mädchen auf.«
Mama schrie leise auf. »Das ist mir egal! Warum konnte Gott nicht eins der Mädchen nehmen?«
»Irina, sag so etwas nicht! Das meinst du doch nicht ernst.« »Warum nur, Georgi, warum? Ich weiß doch, dass du genauso empfindest. Würdest du nicht auch Tania für unseren Sohn hergeben? Oder sogar Dascha? Tania ist so schüchtern und schwach, sie wird es nie zu etwas bringen.« »Was hat sie denn hier auch für Möglichkeiten, ob schüchtern oder nicht?«, fragte Tatianas Vater. »Bestimmt nicht solche wie unser Sohn«, sagte Mama. Tatiana zog sich die Decke über die Ohren, damit sie nichts mehr hören musste. Dascha schlief weiter. Nach einer Weile schliefen auch Mama und Papa ein. Aber Tatiana blieb wach und die Worte hämmerten in ihrem Kopf. Warum konnte Gott nicht Tania nehmen statt Pascha?
Am nächsten Tag ging Tatiana zur Pawlow-Kaserne. Sie konnte es kaum glauben, dass sie den Mut dazu aufbrachte. Sie erkundigte sich bei dem lächelnden Feldwebel Petrenko nach Alexander und wartete dann mit zitternden Knien. Ein paar Minuten später trat Alexander durch das Tor. Nur für einen Moment verschwand der angespannte Ausdruck aus seinem Gesicht. Er hatte Ringe unter den Augen. »Hallo, Tatiana«, sagte er kühl und hielt einen höflichen Abstand zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, erwiderte Tatiana. »Und bei dir? Du siehst...« Blinzelnd antwortete Alexander: »Mir geht es gut. Wie ist es dir in den letzten Tagen ergangen?«
»Nicht so gut«, gab Tatiana zu, wobei sie sofort die Angst be-schlich, er könne denken, er sei der Grund für ihren Kummer. Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie hatte Angst um Pascha, aber da war auch noch etwas anderes. Sie wollte nicht, dass Alexander es merkte. »Alexander, könntest du dich für uns nach Pascha erkundigen?« Er blickte sie mitleidig an. »Oh Tania«, sagte er. »Wozu soll das gut sein?«
»Bitte. Könntest du das tun? Meine Eltern sind verzweifelt.« »Es ist besser, wenn sie nichts wissen.«
»Bitte! Mama und Papa müssen die Wahrheit erfahren. Wie auch immer sie lautet - sie werden damit umgehen können.« Tatiana blickte Alexander nicht an, während sie sprach. »Aber diese Ungewissheit macht sie verrückt.« Als Alexander nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Wenn sie Bescheid wüssten, würden Dascha, ich und vielleicht auch Mama mit Deda und Babuschka nach Molotow gehen.« Alexander zündete sich eine Zigarette an. »Versuchst du es, Alexander?« Sie war so froh, seinen Namen laut aussprechen zu können! Am liebsten hätte sie seinen Arm berührt. Glücklich und unglücklich zugleich, ihn endlich wiederzusehen, hatte sie das unbändige Bedürfnis, ihm ganz nahe zu sein. Er trug nicht seine volle Uniform. Wahrscheinlich kam er geradewegs aus seinem Quartier, denn sein Hemd war offen und hing halb aus der Hose.
Er rauchte schweigend und sah sie dabei unverwandt an. Tatiana rang sich ein klägliches Lächeln ab.
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