Die Liebenden von Leningrad
gleich. Wein nicht, dann werden die Schmerzen nur noch schlimmer! Warum schläfst du nicht ein bisschen? Ich gebe dir etwas, damit du schlafen kannst.« Tatiana schlief tatsächlich ein. Als sie die Augen aufschlug, saß ihre Familie um ihr Bett herum. Alle blickten sie liebevoll und entsetzt zugleich an. Dascha hielt ihre Hand. Mama tupfte ihr Gesicht ab. Babuschka klopfte besorgt auf Dedas Hand und Papa blickte sie vorwurfsvoll an.
»Tania, du warst vier Tage weg«, sagte Dascha und strich ihr über die Haare.
Mama streichelte ihre Hände. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, jammerte sie immer wieder.
»Ich wollte Pascha holen«, sagte Tatiana und drückte die Hand ihrer Mutter. »Es tut mir Leid, dass ich es nicht geschafft habe.«
»Tania, was redest du nur für einen Unsinn?«, rügte Papa und trat ans Fenster.
Mama schluchzte: »Taneschka, du bist doch unser kleines Mädchen, unser Engelchen. Was hätten wir denn gemacht, wenn wir auch dich verloren hätten? Wie hätten wir weiterleben sollen?«
Papa befahl Mama, keinen Unsinn zu reden. »Wir haben Pascha nicht verloren! Ständig kommen Freiwillige zurück von der Front. Also haben wir noch Hoffnung.« »Erzähl das mal Nina Iglenko«, erwiderte Dascha. »Immer, wenn man auf den Flur geht, hört man sie um ihren Wolodja weinen.«
»Nina hat vier Söhne, die alle an die Front müssen, wenn dieser Krieg nicht bald vorüber ist«, sagte Papa unbeeindruckt. »Sie gewöhnt sich am besten schon einmal an den Gedanken, sie zu verlieren.« Er senkte den Kopf. »Aber wir haben nur einen Jungen und deshalb darf ich die Hoffnung nicht verlieren.« Wenn Tatiana die Kraft dazu gehabt hätte, hätte sie sich abgewendet. Sie war nicht in der Lage, ihnen zu erzählen, was sie in Luga gesehen hatte. Wenn sie ihnen sagte, dass sie Leichen versorgt hatte, dass direkt vor ihr Menschen gestorben waren, dass sie verbrannte und verstümmelte Gliedmaßen gesehen hatte, hätte ihre Familie ihr nicht geglaubt. Tatiana glaubte es ja selbst kaum.
»Du bist völlig wahnsinnig, Tania«, sagte Dascha. »Uns so in Angst und Schrecken zu versetzen und das Leben meines armen Alexander aufs Spiel zu setzen! Er hat sich gegen den Willen seines Kommandanten auf die Suche nach dir gemacht, weil ich ihn darum gebeten habe.«
»Tatiana, er hat dir das Leben gerettet«, sagte Deda. »Ja?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Ach, du armes Ding«, sagte Mama und rieb ihr die Hand. »Du erinnerst dich nicht. Georgi, sie erinnert sich an gar nichts mehr. Was musst du nur durchgemacht haben!« »Hast du es denn nicht gehört, Mama?«, fragte Dascha. »Der Bahnhof ist über ihr zusammengestürzt. Alexander hat sie ausgegraben.«
»Dieser Mann, Daschenka!«, rief Papa aus. »Wo hast du ihn bloß aufgetan? Er ist Gold, pures Gold wert! Halt ihn bloß fest!« »Das habe ich vor, Papa.«
In diesem Moment betrat der Mann aus purem Gold mit Dimitri das Zimmer. Die ganze Familie stürzte auf ihn zu. Papa und Deda schüttelten ihm heftig die Hand. Mama und Babuschka umarmten ihn. Dascha zog ihn zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.
Sie hörte gar nicht mehr auf, ihn zu küssen.
»Jetzt ist es genug, Daria Georgiewna«, erklärte Papa. »Lass den Soldaten endlich zu Atem kommen.«
Dimitri trat zu Tatiana und legte den Arm um sie. Besorgt und amüsiert sah er sie an. »Nun, Taneschka«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Offenbar hast du Glück, dass du noch am Leben bist.«
»Tatiana, ich glaube, du hast Leutnant Below etwas zu sagen«, bemerkte Papa feierlich.
»Unser Leutnant bekommt schon wieder eine Ehrenmedaille verliehen«, schnaubte Dimitri. »Nachdem er Tatiana ins Krankenhaus gebracht hat, ist er zu seinen Männern zurückgekehrt und hat elf von zwanzig wieder nach Leningrad zurückgebracht. Und die meisten dieser Männer waren noch nicht einmal ausgebildet. Das war sogar noch besser als in Finnland, was, Alex?«
Alexander trat ans Bett und fragte: »Tania, wie geht es dir?« »Warte, was ist denn in Finnland passiert?«, wollte Dascha wissen, die an Alexanders Arm klebte. »Wie geht es dir, Tania?«, wiederholte Alexander. »Großartig«, erwiderte Tatiana, ohne ihn anzusehen. Sie lächelte ihre Mutter an. »Mir geht es gut, Mama. Ich komme bald nach Hause.«
Dascha, noch immer bei Alexander eingehakt, fragte erneut: »Was war in Finnland?«
»Ich möchte nicht darüber reden«, erwiderte Alexander. »Ich erzähle es euch!«, rief Dimitri fröhlich. »Aus
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