Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paullina Simons
Vom Netzwerk:
wollte ihn wieder ganz nahe bei sich spüren.
    Tag für Tag lag Tatiana in ihrem Zimmer. Die Zeit wurde ihr lang und nachts konnte sie nicht schlafen. Die Tränen in den Augen ihrer Mutter schnitten ihr ins Herz, ebenso wie das Schweigen ihres Vaters. Es belastete sie, dass sie es nicht geschafft hatte, Pascha zu finden und zurückzubringen. Aber am meisten schmerzte sie, dass Alexander nicht mehr zu Besuch kam. Zuerst tat es ihr nur weh. Dann war sie wütend auf ihn, danach wandte sich ihr Zorn gegen sich selbst. Zugleich war sie verletzt. Und schließlich resignierte sie.
    Und genau an diesem Tag betrat Alexander direkt nach dem Mittagessen ihr Zimmer und brachte ihr ein Eis. »Danke«, sagte sie leise.
    »Bitte«, erwiderte er genauso leise. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. »Ich bin auf Stadtpatrouille«, erklärte er. »Ich gehe durch die Straßen, kontrolliere, dass alle Fenster verklebt sind und dass nichts Ungewöhnliches passiert.« »Allein?«
    »Nein«, erwiderte er und verdrehte die Augen. »Mit einer Gruppe von siebenundvierzigjährigen Männern, die noch nie in ihrem Leben ein Gewehr in der Hand gehalten haben.« »Dann bring es ihnen bei, Alexander! Du bist bestimmt ein guter Lehrer.«
    Er blickte sie an und sagte: »Wir haben gerade den ganzen Morgen damit zugebracht, Panzerbarrikaden auf dem Moskau Prospekt Richtung Süden aufzubauen. Jetzt fahren dort keine Straßenbahnen mehr.« Er schwieg. »Aber bei Kirow wird noch gearbeitet. Sie produzieren weiter Panzer. Sie überlegen allerdings, ob sie die Produktion nicht weiter nach Osten verlegen sollen. Andere kleinere Firmen verlassen bereits nach und nach die Stadt.« Er schwieg wieder. »Tania? Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Was?« Sie schreckte auf. »Wie schmeckt das Eis?« »Sehr gut. Ein unerwarteter Leckerbissen!« »So sollte man über die meisten Dinge im Leben denken«, erwiderte Alexander und erhob sich. »Ich muss jetzt gehen.« »Nein!«, bat Tania rasch. »Warte!« Alexander setzte sich wieder.
    »Wegen neulich ...«, stammelte sie. »Es tut mir Leid. Ich ...« Alexander schüttelte den Kopf. »Vergiss es!« »Warum bist du erst jetzt gekommen?« »Wie meinst du das? Ich komme doch jeden Tag vorbei!« Sie schwiegen beide und vermieden es, einander anzusehen. »Ich wäre ja allein gekommen«, sagte er schließlich. »Aber ich dachte, dass es wenig Zweck hat. Weder dir noch mir wird es dadurch besser gehen.«
    Vor Tatianas innerem Auge tauchte ein Bild auf. Er beugte sich über sie, wusch Blut von ihrem nackten Körper. Sie konnte nur mit Mühe atmen. Ein weiteres Bild entstand ... Sie schlief in seinen Armen, die Lippen auf seine Brust gepresst, ihre Hände berührten ihn. Tatiana wandte das Gesicht ab. »Du hast Recht«, flüsterte sie.
    Alexander stand erneut auf und diesmal hielt Tatiana ihn nicht zurück. »Bis später«, sagte er und drückte einen Kuss auf ihr Haar.
    Als er bereits an der Tür war, fragte sie: »Kommst du wieder? Nur wenn du Zeit hast, nur für ein paar Minuten!« Er erwiderte: »Tania ...« »Ich weiß ... komm besser nicht!«
    »Tania, die Krankenschwestern hier ... eines Tages machen sie deiner Familie gegenüber eine Bemerkung über meine Besuche. Es wäre nicht gut.« »Ja, das ist wahr«, gab sie zu.
    Als er gegangen war, hing Tatiana selbstquälerischen Gedanken nach. Sie hatte immer geglaubt, sie sei eine gute Schwester, aber bisher hatte sie das noch nie beweisen müssen. Und nun hinterging sie Dascha in solch schamloser Weise.

    Eine Woche spater wachte Tatiana eines Nachts davon auf, dass ihr jemand über das Gesicht streichelte. Sie war sich zunächst nicht sicher, ob es sich nicht um einen Traum handelte. Sie wollte die Augen aufschlagen, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte starke Medikamente genommen.
    Es war ein Mann mit großen Händen. Er hielt inne und sagte: »Tatia?«
    Es ist wirklich ein schöner Traum, von Alexander mitten in einer Augustnacht gestreichelt zu werden, dachte Tatiana. Endlich schlug sie die Augen auf.
    Es war tatsächlich Alexander. Er trug keine Mütze und hatte diesen zärtlichen Blick in seinen Augen, den Tatiana so liebte. Sogar im Dunkeln konnte sie das erkennen. »Habe ich dich geweckt?« Er lächelte.
    Sie setzte sich auf. »Ja. Ich glaube schon.« Sie berührte seinen Arm. »Es kommt mir so vor, als sei es mitten in der Nacht.« »Das ist es auch«, erwiderte er. »Es ist ungefähr drei Uhr.« »Was ist los?«, wisperte sie. »Geht es dir gut?« »Ja. Ich

Weitere Kostenlose Bücher