Die Liebenden von Leningrad
fürchterlich durcheinander brachte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Alexander sie finster anblickte. Ihr stockte der Atem. Schweigend setzte sie sich neben Dimitri. Anscheinend hatte er sich doch nicht immer im Griff.
»Das ist ein lustiges Spiel, Tatiana«, sagte Dimitri und legte den Arm um sie.
»Wann wirst du je erwachsen, Tania?«, stöhnte Dascha. Alexander schwieg.
Tatiana war dankbar dafür, dass sie wegen ihres gebrochenen Beins mit Dimitri keine Spaziergänge machen konnte. Sie war auch froh, dass sie angesichts der vielen Leute in der Wohnung nicht mit Dimitri allein sein musste. Aber als sie an diesem Abend in die Wohnung zurückkehrten, stellte Tatiana entsetzt fest, dass ihre Eltern in der milden Augustnacht zu einem Spaziergang aufgebrochen waren.
Tatiana registrierte Dimitris viel sagendes Lächeln. Dascha fragte: »Bist du müde, Alexander?«
Alexander kam Tatiana zu Hilfe. »Nein, Dascha«, entgegnete er. »Ich muss gehen. Komm, Dimitri!«
Dimitri, der Tatiana unverwandt ansah, erwiderte, er wolle noch nicht gehen.
»Doch, Dima«, sagte Alexander. »Leutnant Marasow will dich heute Abend vor der Wache noch sprechen. Lass uns aufbrechen!«
Als Mama und Papa von ihrem Spaziergang zurückkamen, bat Tatiana sie leise, nie wieder am Abend die Wohnung zu verlassen.
Tagsüber humpelte Tatiana durch die Straßen, um in den Läden in der Nähe einzukaufen. Ihr war bereits aufgefallen, dass es weder Rindfleisch noch Schweinefleisch gab. Sie bekam noch nicht einmal die zweihundertfünfzig Gramm Fleisch pro Woche, die jedem zustanden. Nur gelegentlich gab es Hühnchen. Lediglich Kohl, Äpfel, Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten waren noch zu bekommen. Butter war rar und das wirkte sich auf die Qualität ihrer Kuchen aus. Alexander aß sie jedoch nach wie vor mit Begeisterung.
Am Nachmittag legte sie sich für eine Weile aufs Bett und studierte englische Wörter, bevor sie das Radio einschaltete. Tatiana hörte jeden Nachmittag Radio. So konnte sie ihrem Vater am Abend immer die neuesten Nachrichten von der Front überbringen. Nur seine dringlichste Frage konnte sie ihm nicht beantworten: Gibt es Nachrichten von Pascha? Tatiana fühlte sich verpflichtet, wenigstens etwas über die Position der Roten Armee oder das Vorrücken der deutschen Truppen in Erfahrung zu bringen. Und meist gab es auch Neuigkeiten von der finnisch-russischen Front.
»Die finnischen Armeen gewinnen rasch alle Gebiete zurück, die sie im Krieg von 1940 verloren haben.«
»Die Finnen rücken weiter Richtung Leningrad vor.«
»Die Finnen sind in Lisiy Nos, ungefähr zwanzig Kilometer vor der Stadtgrenze.«
Dann folgten in der Regel ein paar Sätze über den deutschen Feldzug. Der Sprecher las langsam und führte die Nachrichten breit aus, damit niemand bemerkte, dass sie eigentlich inhaltslos waren. Tatiana suchte die von den Deutschen besetzten Städte im Atlas.
Als sie realisierte, dass Zarskoje Selo in deutscher Hand war, war sie schockiert. Zarskoje Selo war wie Peterhof ein Sommerpalast der Zaren gewesen, das Schlimmste jedoch war, dass es nur zehn Kilometer südöstlich von den Kirow-Werken entfernt lag, die sich an der Leningrader Stadtgrenze befanden. So nahe standen die Deutschen bereits? »Ja, so ist es«, bekannte Alexander an diesem Abend.
Die Stadt hatte sich verändert, während Tatiana im Krankenhaus gelegen hatte. Die goldenen Türme der Admiralität und der Peter-Paul-Kathedrale waren nun grau. Auf den Straßen sah man überall Soldaten und NKWD-Milizen in ihren dunkelblauen Uniformen, Jedes Fenster in der Stadt war verdunkelt. Manchmal setzte sich Tatiana auf eine Bank gegenüber der Kirche und beobachtete die Menschen, die durch die Straßen eilten. Am Himmel erblickte sie zahlreiche Flugzeuge. Die Lebensmittelrationen wurden schließlich noch weiter eingeschränkt, aber Tatiana bekam immerhin genug Mehl. Und außerdem brachte Alexander oft seine Rationen mit.
Dimitri ging mit Tatiana aufs Dach, während Dascha und Alexander in der Wohnung blieben. Er legte seinen Arm um sie und sagte: »Tatiana, ich bin so traurig! Wie lange soll ich denn noch warten? Erlaubst du mir heute Abend ein bisschen mehr als sonst?«
Tatiana legte ihm die Hand auf den Arm und fragte: »Was ist denn los?«
»Ich brauche nur ein wenig Trost«, bat er und umarmte sie. Er versuchte, sie auf den Mund zu küssen.
Tatiana fand es widerlich. »Dima, bitte«, flüsterte sie, wich zurück und winkte Anton, der sofort zu
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