Die Liebesbloedigkeit
Appelle bin ich inzwischen zu alt. Ich glaube auch nicht mehr an sie, im Gegenteil. Ich werfe mir heute vor, daß ich mit solchen Reden so manches mittlere Talent zum Aushalten gedrängt habe. Ich durchquere das Erdgeschoß eines Kaufhauses. Ich könnte mir hier (der Sommer ist nah) ein paar neue Sandalen kaufen. Aber ich habe zur Zeit zwei kleine Löcher in den Strümpfen und kann mir öffentliches Schuheanprobieren nicht erlauben. Sandra wird mir die Strümpfe gelegentlich stopfen, ihr Ansehen bei mir wird dadurch weiter steigen. In diesen Augenblicken schmilzt mein Bewußtsein die beiden Worte Erdnuß und Erdgeschoß zu dem neuen Wort Erdnußgeschoß zusammen. Als Dank für die schöne Erinnerung schäle ich in meiner Sakkotasche eine Erdnuß und werfe sie in hohem Bogen über die Köpfe der Leute. Erlöst schaue ich der Flugbahn der Erdnuß nach. Für drei Sekunden kehrt ein Abglanz meines damaligen Erdnußkollerglücks zu mir zurück. Die Erdnuß geht in der fast leeren Lederwarenabteilung nieder und fällt dann auf den Boden, von niemandem bemerkt.
3
Drei Tage später, an einem Sonntagmorgen, steigen Judith und ich in eine Straßenbahn, die uns zu den Rheinauen bringen wird. Wir müssen bis zur Endstation fahren und dann noch zwanzig Minuten gehen. Die Auen sind eine leicht gewellte Landschaft mit kleinen Kiefernwäldchen, versteppten Grasflächen, flachen Tümpeln, wildwachsenden Pflaumenbäumen und ein bißchen Mischwald dazwischen. An der Endstation werden wir auf die Vogelkundlergruppe des Naturschutzbundes treffen. Ich sitze am Fenster der Straßenbahn und betrachte Judith, wir fahren in mäßiger Geschwindigkeit dahin. Es gibt keinen Lärm, keinerlei Durchsagen, keine Betrunkenen, keine Werbebilder. Judith und ich führen zuweilen kleine sinnlose Unterhaltungen, die uns deutlich machen, daß wir in zufriedener Stimmung sind. Zum Beispiel über die Frage, ob sich aneinander vorbeifahrende Straßenbahnführer grüßen sollen oder nicht. Judith ist dafür, daß sie sich grüßen, ich halte dagegen, daß sie sich pro Tag nicht fünfzig- oder sechzigmal grüßen können. Aber sie können doch auch nicht jedesmal wegschauen, wenn sie aneinander vorbeifahren, sagt Judith. Wir können das Problem nicht lösen und sind froh, daß wir keine Straßenbahnführer sind. Seit zwei Tagen wackelt einer meiner hinteren Backenzähne. Ich gleite mit der Zunge über den Zahn und beschleunige damit seinen Abgang. Es wird insgesamt der dritte Backenzahn sein, der mich verläßt, ich werde den Verlust hinnehmen und nicht zum Zahnarzt gehen, weil ich mich vor Zahnärzten fürchte. Wir fahren durch Vorstadtstraßen, an verlassenen Villen vorbei. Mir gefallen neuerdings Gärten, guter Gott, ich werde älter. Im stillen lobe ich Judith für ihre Anteilnahme am Leben der Straßenbahnführer. Sie wird es vermutlich mit einem Schulterzucken hinnehmen, wenn die Sexualität zwischen uns einschläft. Ich habe bis jetzt nur ein einziges Mal mit ihr über dieses Thema gesprochen. Sie sagte nur: Ich wundere mich, daß überhaupt noch etwas los ist; ich hätte nie für möglich gehalten, daß ich noch mit einundfünfzig mit einem Mann ins Bett gehe. Nach dieser Bemerkung war das Thema (vorläufig) beendet. Insofern ist Judith die für das Problem der Sexualverlöschung wahrscheinlich geeignetere Frau. Im Augenblick spricht Judith über das Fernsehen, das heißt über eine Dokumentation über den Tod eines von Terroristen ermordeten Politikers.
Stell dir vor, sagt Judith, die Witwe hat während der fürchterlichen Todestage ihres Mannes ›Mensch ärgere dich nicht‹ gespielt.
Unglaublich, sage ich.
Der Mann erstickte fast im Kofferraum eines Autos, ehe er mit ein paar Genickschüssen erledigt wurde, und seine Frau sitzt zu Hause und würfelt.
Hat sie das selber gesagt?
Ja. Noch zwei Stunden später, als ich im Bett lag, habe ich an die Witwe gedacht. Dann habe ich zufällig im Radio die Bachkantate ›Ärgere dich, o Seele, nicht‹ gehört. Erst durch das Anhören der Kantate habe ich die Witwe vergessen können, aber ich habs nicht verstanden. Denn inhaltlich drücken ›Mensch ärgere dich nicht‹ und ›Ärgere dich, o Seele, nicht‹ doch dasselbe aus, oder?
Find’ ich schon, sage ich.
Erst am nächsten Morgen ist mir ein Unterschied aufgefallen, sagt Judith; ›Mensch ärgere dich nicht‹ erniedrigt den Menschen ein bißchen, weil es den Ärger als blödes Massenschicksal hinstellt.
Das ist der Ärger ja auch, sage
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