Die Liebesbloedigkeit
und raucht, die Thailänderin schweigt und sieht auf den Boden. Allmählich wird der Innenlärm des Lokals zu etwas Privatem und schützt gegen den Außenlärm der Stadt. Ich überlege, wie ich von Morgenthaler wieder loskomme. Es gibt eine Kommode mit echten Intarsien, sagt er und schaut in sein Glas. Dann sagt er: Ich hatte heute morgen ein schreckliches Erlebnis.
Heute morgen schon, stoße ich hervor.
In der Cafeteria bei Karstadt, sagt Morgenthaler, wo ich meistens frühstücke. Dort hängt ein großes Schild an der Decke, du hast es bestimmt schon gesehen. Auf dem Schild steht: Bitte stellen Sie Ihr Tablett in den Abräumwagen! Vielen Dank!
Aber du bist gestolpert und bist mitsamt deinem Tablett in die Gegend... äh, sage ich.
Weißt du, was ich statt dessen auf dem Schild gelesen habe?
Gott nein, mache ich.
Ich habe versehentlich gelesen: Bitte stellen Sie Ihr Talent in den Abräumwagen!
Oh! mache ich.
Ja, oh, sagt er; was sagst du dazu?
Ich weiß, Morgenthaler braucht jetzt einen Satz, der ihm das Talent wieder bescheinigt, aber ein solcher Satz fällt mir nicht ein. Statt dessen sage ich ein bißchen kläglich: Das darfst du nicht ernst nehmen!
Gut gesagt, ruft Morgenthaler.
Klar, er hat die Schwäche meiner Bemerkung sofort erkannt. Ich merke, Morgenthaler ist getroffen von seinem Erlebnis. Es ist möglich, daß ein inneres Geschehen, eine schon lange andrängende Ahnung (seine Belanglosigkeit als Künstler) über seine Ufer getreten ist und Teil seines Bewußtseins wird. Ich müßte ihm irgendwie beistehen, aber wie?
Du trinkst noch ein Glas? fragt er.
Diese Frage ist meine Chance. Auf keinen Fall! rufe ich aus, ich muß heute noch arbeiten, und nicht zu knapp.
Du hast es gut, sagt er, du kannst immer arbeiten.
Das scheint nur so, sage ich.
Wann immer ich dich treffe, sagt er, mußt du gerade arbeiten.
Das ist eine sehr verkürzte Darstellung, antworte ich; eigentlich müßte ich sagen, ich muß meiner Arbeit auflauern.
Auflauern?
Ja, auflauern.
Das ist gut, sagt Morgenthaler mit plötzlich heiterer Stimme.
Ich muß lange lauern und warten, sage ich, bis meine Arbeit und ich gut aufeinander zu sprechen sind.
Morgenthalers abgesackter Körper wird wieder lebendig; er lacht sogar ein bißchen.
Bringen Sie mir noch ein Bier, ruft er der Kellnerin zu. Offenbar ist mir endlich eine Bemerkung gelungen, die Morgenthalers Stimmung aufbessert. Ich nutze noch einmal meine Chance und erhebe mich im Windschatten meines Satzes.
Ich rufe dich in den nächsten Tagen an, sage ich, dann schauen wir uns die Möbel deiner Mutter an.
Ist gut, ruft mir Morgenthaler nach.
Eine Minute später bin ich draußen. Es ist wunderbares Frühsommerwetter. Ein makelloses Licht sitzt auf jedem Kindergesicht und in jeder Baumkrone. Sogar in die vorüberfahrenden Autos blitzt die Sonne hinein und hellt die Gesichter der Fahrer auf. Ich will wieder nach Hause und durchquere rasch die Innenstadt. Rätselhafterweise hat mich die Begegnung mit Morgenthaler in eine gute Arbeitsstimmung versetzt. Aus meiner Sakkotasche hole ich ein paar Erdnüsse hervor und schäle sie während des Gehens. Als Kind ließ ich gerne eine einzelne Erdnuß in meinen Schuhen hin- und herrollen. Damals nannte ich das Rollen der Nüsse in den Schuhen das Kollern. Erdnußkollern. Ich bin beglückt über die Wiederkehr des Wortes! Wenn eine Nuß ein paar Runden in meinen Schuhen gedreht hatte, schmeckte sie ein bißchen nach Fisch und ein bißchen nach Käse, das heißt, sie schmeckte nach mir. Meine Mutter hat mir das Erdnußkollern verboten. Sie bekämpfte alle Gerüche und verstand deswegen nicht, daß man als Kind mit seinen Gerüchen identisch ist und die eigenen Gerüche sogar liebt. Nach dem Verbot habe ich Erdnußkollern nur noch gespielt, wenn ich allein war, wodurch das Spiel ein bißchen sonderbar, aber auch geheimnisvoll und erregend wurde.
Ich bin erstaunt, daß mir ausgerechnet Morgenthaler zu so schönen Erinnerungen verhilft. Noch einmal überlege ich, ob und wie ich ihm helfen könnte. Früher habe ich in solchen Fällen eine kurze apokalyptische Rede über Krise und Bewährung gehalten. Solange man unangefochten produzieren kann, ist es ganz einfach, sich einen Künstler zu nennen, habe ich damals gesagt, als ich solche Ansprachen noch hielt. Alles, was ein Künstler zu sein beansprucht, zeigt erst dann seine Dauer, wenn die Produktion in Schwierigkeiten gerät, verstehst du?! Deswegen darfst du nicht aufgeben! Für derartige
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