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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ich.
    Stimmt, sagt Judith, aber Bach richtet den Menschen in seinem dummen Ärger wieder auf.
    Wieso?
    Weil Bach das Wort Seele verwendet, sagt Judith, und wer von der Seele spricht, meint nicht die angeblödeten Leute, die ›Mensch ärgere dich nicht‹ spielen, weil sie sich die Zeit vertreiben müssen wie Hühner oder Witwen.
    Es ist nur das Wort Seele, das dem einzelnen verärgerten Menschen die Würde zurückgibt.
    Wenn ich im Augenblick die Wahl treffen müßte, mit welcher Frau ich alt werden möchte, würde ich keine Minute zögern müssen. Wir schauen stumm auf die Rapsfelder, die sich links und rechts der Straßenbahnlinie hinziehen. Das Sonnenlicht steht auf Judiths weißem Gesicht. Ruhig atmet ihre Brust. Ich schaue in Judiths Ausschnitt wie ein Neunzehnjähriger. Die Endstation kommt in Sicht. Ein knappes Dutzend Amateur-Ornithologen steht herum. Es sind durchweg ältere Leute. Wir zeigen dem Exkursionsleiter den Einzahlungsbeleg unserer Teilnahmegebühr. Der Exkursionsleiter ist ein drahtiger Greis, der mit dem Spazierstock in die Gegend deutet und Erklärungen abgibt. Er führt die Gruppe nach links in ein Gelände mit verwilderten Grundstücken, durch das ein überwachsener Pfad hindurchführt. Leider gibt der Boden nicht viel her, einige Bäume sind schon abgestorben, sagt der Exkursionsleiter, aber in den Büschen leben viele Vögel. Zwei der Teilnehmer haben ein Fernglas mitgebracht. Ringsum ertönt ein Fiepen, Pfeifen und Piepen. Der Vogelkundler versammelt die Leute um sich und flüstert: Das ist noch keine Nachtigall, das ist ein Pirol. Der Pirol hat einen schönen melodischen Pfiff, hören Sie es? Der Vogelkundler schweigt und hält sein linkes Ohr in Richtung der Töne. Der Pirol pfeift weiter. Der Vogel muß sich in unserer Nähe befinden, aber wir sehen ihn nicht. Aus einer anderen Richtung kommt ein Zilp-Zalp, Zilp-Zalp, Zilp-Zalp. Das ist ein Grauschnäpper, sagt der Vogelkundler. Der Pfad ist jetzt so stark zugewachsen, daß der Weg unter dem Gestrüpp kaum noch zu sehen ist. Das hat den Vorteil, sagt der Leiter, daß Katzen und Hunde nicht in das Gelände eindringen. Dafür aber Menschen, sagt eine grauhaarige Frau strafend. Das ist nicht so schlimm, wie viele meinen, sagt der Leiter, denn die Vögel wissen, daß wir sie nicht fangen und nicht fressen. Mir fällt ein Lehrer ein, der das Gezwitscher der Vögel in der Grundschulzeit stets das Konzert unserer gefiederten Freunde nannte. Als Kind stellte ich mir eine Weile vor, die Vögel würden sich winzig kleine Instrumente unter ihre Flügel klemmen und sich wie Mitglieder eines Orchesters auf einem Baum sammeln. Der Leiter hebt den gestreckten Zeigefinger und spitzt die Lippen. Das sind Nachtigallen, flüstert er. Wir hören ein Zwitschern, Seufzen, Girren, Stöhnen, Gurren, Locken, Schlagen, Glucken. Judith senkt den Blick (wie im Konzert, wenn sie Bach hört) und faßt mich an. Zizazi coi coi coi coi coi, tönt es von links. Tsetsetsetsetsetse tsatsatsi, tönt es von rechts. Und, ganz aus der Nähe: Hiip hiip hiip quoi quoi quoi quoi. Immer schneller folgt Erwiderung auf Erwiderung. Der Vogelkundler hebt den Kopf und flüstert in die Runde: Eine Nachtigall kann innerhalb einer Stunde mehr als vierhundert Strophen nacheinander singen. Die Teilnehmer sind gerührt-erstaunt-ergriffen. Der Pfad öffnet sich und mündet in eine kleine verwilderte Wiese. Die Vogelliebhaber schauen sich beglückt in die Gesichter. Die Vögel sind uns nah, obwohl wir sie kaum sehen. Am Rand der Wiese, zum Wald hin, entdeckt Judith zwei verlassene Schlafsäcke. Sie sind geöffnet und liegen nebeneinander. Wir reden darüber, ob sie ganz aufgegeben oder nur vorübergehend zurückgelassen worden sind. Judith vermutet, sie gehören zwei Obdachlosen, die von unserem Ausflug wußten und sich für einen Tag aus dem Staub gemacht haben. Die Gruppe durchquert ein Wäldchen und zieht sich dabei auseinander. Sperlinge lassen sich auf den Schlafsäcken nieder und picken Brotkrumen auf. Wenn ich mich nicht täusche, ist es Judith inzwischen ziemlich nachtigallenmäßig zumute. Sie löst sich von mir und kriecht unter die überhängenden Äste einer größeren Hecke. Meine Aufmerksamkeit ist ein wenig gestört beziehungsweise gespalten. Auf dem Weg über die Wiese habe ich leere Batterien, kaputte Kassettenrecorder, kleine Elektroteile liegen sehen. Judiths Hand erscheint unter dem Gesträuch und winkt mich herbei. Ich beuge mich unter die Äste und sehe Judith in einer

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