Die Liebesbloedigkeit
Danach ergreift mich ein seltsamer Arbeitsdrang, vermutlich eine Form von Dankbarkeit. Ich setze mich neben die eben noch beklagten Aufschichtungen auf meinem Schreibtisch und arbeite. Kern meines neuen apokalyptischen Vortrags wird sein, daß ein neuer, diesmal endgültiger, apokalyptischer Faschismus auf uns zukommt. Schnell wird er da sein, weil er bei den Menschen nicht mehr langwierig durchgesetzt werden muß; die allgemeine Bereitschaft für ihn ist da. Das Volk wird ihn bejubeln, wie noch kein Faschismus zuvor bejubelt worden ist. Der neue Faschismus kommt in der Maske der permanenten Massenunterhaltung auf uns zu. Schon vor dreißig Jahren (werde ich ausführen) hätte uns der Widerspruch auffallen müssen, daß der Staat die immer totaler (und totalitär) werdende Unterhaltung nicht gestoppt und gleichzeitig behauptet hat, er hätte nach wie vor das Wohl seiner Bewohner im Sinn. Und es hätte uns allen auffallen müssen (werde ich hinzufügen), daß man das Denken von Menschen, die sich täglich drei bis vier Stunden lang dem Fernsehen aussetzen, nicht frei nennen kann. Ich werde den Staat mit einem immer härter werdenden Eisblock vergleichen, den wir zwar jeden Abend in der Tagesschau an uns vorbeitrudeln sehen, den wir aber nicht mehr fassen, nicht mehr begreifen und nicht mehr schätzen können. Wir können sehen, daß der Eisblock mit seinen messerscharfen Kanten alles niederrammt, was er selbst nicht mehr als zu sich gehörig erkennen kann. Ich werde die Teilnehmer meines Seminars dafür sensibilisieren, daß jeder neue Faschismus mit der Neuerfindung von Vorbehalten gegen bestimmte Opfergruppen beginnt und daß diese Vorbehalte im Schutz der Massenunterhaltung unmerklich situiert und ebenso unmerklich durchgesetzt werden. Schon jetzt hat der Unterhaltungsfaschismus bestimmte Schichten ausgemacht (Arbeitslose, Obdachlose, Arbeitsunwillige, Alte, Behinderte, Opfer, Dauerkranke), die mit brüderlich klingenden Fernsehshows gekennzeichnet und dann sanft eliminiert werden. Als Zukunftsaufgabe bleibt dem Eisblockfaschismus nur noch, daß sich unter den Bewohnern ein immer größeres Publikum bildet, das an Vorbehalten Freude und an der sanften Bezichtigung Genugtuung empfindet. Dann wird der faschistische Mechanismus (Unbetroffene kennzeichnen freiwillig die Betroffenen) nicht mehr rückgängig zu machen sein. Es gibt, werde ich sagen, in einem einmal durchgesetzten Faschismus keine Revision mehr, die eine eingespielte Ausgrenzung wieder aufheben könnte.
Ich überlege, ob ich Sandra oder Judith zu meinem Seminar mitnehmen soll. Beide Frauen sind, glaube ich, an meinem Beruf und seinen Problemen kaum interesssiert; sie hören mir zwar zu, wenn ich über moderne Apokalypse spreche, aber mit erkennbar geringer Neigung. Für beide wären zweieinhalb Tage in der Schweiz ein willkommener Kurzurlaub. Da ich andererseits die Kosten niedrig halten muß, entscheide ich mich für ein Einzelzimmer ohne Begleitung. Unter den Hotelangeboten war das Berghotel ›Seeblick‹ (Hanglage) in Interlaken das günstigste und wahrscheinlich das praktischste; es ist ein mittelgroßes Tagungshotel mit kleinen und mittleren Salons; es bietet schlichte Einzelzimmer und Luxus-Appartements an. Bis jetzt haben sich für mein Seminar zwölf Teilnehmer gemeldet, neun Frauen und drei Männer; das ist für die kurze Anlaufzeit eine gute Quote. Wenn mehr als zwanzig Teilnehmer verbindlich zusagen, wird sich die Geschäftsleitung als Dank für meine Gästebeschaffung kulant zeigen: Ich darf dann umsonst wohnen, essen und trinken. Es könnte sein, daß es klappt. Apokalypse ist gefragt, und ich glaube, ich habe einen guten bis sehr guten Ruf. Das Telefon klingelt. Ich habe keine Lust zu reden, aber ich muß den Hörer abnehmen, vielleicht ist es ein neuer Teilnehmer. Es ist Judith. Sie ist gerade unterwegs in einem vermutlich unerheblichen Vorort namens Nettenheim. Neuerdings ruft Judith öfter von unterwegs an und will besänftigt werden. Sie klagt über ihr Leben als Nachhilfe-Lehrerin. Den ganzen Tag ist sie auf den Beinen, sie geht in (vermutlich) schäbigen Häusern (vermutlich) schäbige Treppen auf und ab, immer wieder muß sie sich auf die Eigenarten ihrer Schüler (und deren Mütter) einstellen. Sie versteht nicht, daß sie so müde ist, obwohl der Tag erst zur Hälfte vorüber ist. In früheren Jahren haben wir über diese Probleme nur gesprochen, wenn wir abends zusammensaßen und ein Glas Wein tranken.
Willst du nicht wenigstens
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