Die Liebesbloedigkeit
meine Bekannten sind.
Ich bin im Café Cactus, sagt Morgenthaler, ich gebe dir einen aus, wenn du vorbeikommst.
Guter Gott, denke ich und suche nach einer Ausrede. Ich merke, daß er tatsächlich von einem Lokal aus anruft.
Wo ist das Café Cactus? frage ich kleinlaut.
Du gehst einfach vom Ebertplatz in Richtung Brückenkopf, von dort nach links, dann siehst du schon die grüne Neonschrift Café Cactus.
Ist das ein Nachtlokal? frage ich.
Nein, ruft Morgenthaler, es ist eine normale Bierkneipe.
Ah ja, mache ich.
Also, ruft Morgenthaler, denk nicht soviel, sondern mach dich auf den Weg.
Schon hat Morgenthaler aufgelegt. Offenbar habe ich zugesagt. So einfach ist es, mich in wackligen Stunden fremdzubestimmen. An Arbeit ist jetzt nicht mehr zu denken. Trotzdem setze ich mich noch einmal an den Schreibtisch. Wenigstens den Anzeigentext für das Apokalypse-Wochenende müßte ich zustande kriegen. Aber mir fehlt der Schwung oder die Konzentration oder das Engagement. Das war in der Vergangenheit auch schon mal besser, denke ich, nein, anstatt des Wortes Vergangenheit denke ich Verhangenheit. Wie alles Leben etwas Verhangenes annimmt! Wie ergreifend es ist, wenn sich eine einmal klar gewesene Vergangenheit mehr und mehr verhängt, ohne daß irgend jemand begreift, wie sich eine solche Selbstverhängung genau abspielt. Durch die Freude an dem neuen Wort kehrt meine Konzentration und sogar mein Arbeitswille zurück. Es genügt jetzt ein vergleichsweise geringer Aufwand von Energie und Routine (heraus aus der Verhangenheit!), dann habe ich drei schmissige Zeilen getextet, die Daten darunter plaziert und das Ganze an die drei wichtigsten Tageszeitungen gefaxt. Eine Dreiviertelstunde später ziehe ich mein Sakko an und mache mich auf den Weg ins Café Cactus. Neben dem Juweliergeschäft in der Brönnerstraße steht wie fast jeden Tag eine junge Flötenspielerin. Für einen zur Zeit zur Melancholie neigenden Menschen wie mich ist die Nähe von Straßenmusikern immer wichtig. Ich bleibe zwei Minuten stehen und lasse mir meine Restverhangenheit wegflöten. Nur drei Straßen weiter sitzt ein elender Gitarrenspieler, der kaum die Grundgriffe beherrscht. Es reizt mich, ihm zuzuflüstern: Sie sollten höchstens vor Heuschrecken und Maikäfern aufspielen! In Wahrheit vergnügt mich auch das schlechte Gitarrenspiel. Ein melancholischer Mensch macht sich gerne lustig über das, was ihn kurz zuvor noch getröstet hat. Auf der anderen Straßenseite geht Bausback, der Postfeind. Er ist überzeugt, daß die Post wichtige Briefe an ihn entweder verschlampt oder vernichtet und sich dadurch an seinem Lebensglück vergeht. Bausback ist oft unterwegs, um der Post die Postvernichtung zu beweisen, aber es ist schwierig, die Post auf frischer Tat zu ertappen. Der Postfeind hebt freundlich die Hand, als wäre ich sein Kompagnon. Ich bin froh, daß er nicht herüberkommt und mich anspricht. Dabei habe ich als Apokalyptiker nichts dagegen, wenn mich Menschen auf der Straße ansprechen. Meist handelt es sich um tief beunruhigte Personen, die nach einem Netz suchen, das ihre Unruhe auffängt. Im Augenblick fesseln mich die Schweißerarbeiten an den Straßenbahnschienen. Die Straßenschlucht ist grau, aber an mehreren Stellen gleißt jetzt das weiße kalte Licht der Schweißgeräte auf. Dr. Blaul, der Ekelreferent, geht stumm vorüber und beachtet das schöne Licht der Schweißer nicht. Vermutlich ist er in seine Projekte vertieft. Dr. Blaul ist eigentlich Geisteswissenwissenschaftler (sein Spezialgebiet: Die Glücksrhetorik in den Eheanzeigen der Aufklärung), aber weil er als Geisteswissenschaftler nicht den Schatten einer Stelle hat finden können, wandte er sich den Problemen der modernen Menschen zu. Mich findet Dr. Blaul zum Glück nicht interessant, weil ich für ihn ein Mensch mit veralteten Problemen bin (zwei Frauen und kein Ausweg). Für ihn bin ich jemand, der mit abgestandenen Resten einer vergangenen Epoche in die Moderne hineinragt und nur noch musealen Reiz hat. Dr. Blaul kämpft dafür, daß es Angestellten und Arbeitern erlaubt werden muß, sich pro Monat wenigstens einen freien Ekeltag zu nehmen. Die Menschen müssen das Recht haben, findet Dr. Blaul, ohne Ankündigung und ohne Begründung einen Tag ihrem Betrieb fernzubleiben, wenn sie plötzlich Ekel empfinden, sei es über die Firma, über einen Kollegen, über sich selbst oder worüber auch immer. Ein freier Ekeltag soll uns helfen, daß wir uns wieder fangen können, ohne
Weitere Kostenlose Bücher