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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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unangenehm heiß, weil das Gerät so lange lief. Leonard drehte erst an der Grobeinstellung und dann an der Feineinstellung, und da waren sie: eine Herde von haploiden Hefezellen, wogend wie Kinder in der Brandung am Race Point Beach. Leonard sah die Zellen so deutlich, dass er überrascht war, dass sie nicht auf seine Anwesenheit reagierten, doch sie schwammen weiter selbstvergessen in ihrem Lichtkreis herum. Selbst im emotionsfreien Medium der Agarbrühe schienen die haploiden Zellen ihr Alleinsein als nicht wünschenswert zu betrachten. Ein Haploid im linken unteren Quadranten richtete sich nach dem Haploiden neben ihm aus. Daran war etwas Schönes und Tanzartiges. Leonard hatte Lust, sich die ganze Vorstellung anzusehen, aber es würde Stunden dauern, und er war müde. Er knipste die Beleuchtung aus und ging durch die Dunkelheit zurück in sein Apartment. Da war es nach zwei.
    Am nächsten Morgen brachte Madeleine ihn nach Boston. Sie tat das jede Woche, froh, eine Stunde in den Buchhandlungen am Harvard Square stöbern zu können. Während sie unter einem tiefhängenden Himmel vom gleichen düsteren Grau wie die über die Landschaft verstreuten Saltbox-Häuser die Route 6 entlangfuhren, musterte Leonard Madeleine aus den Augenwinkeln. Im gleichmacherischen Ablauf des Collegestudiums war es möglich gewesen, die Unterschiede in ihrer Erziehung zu übersehen. Doch Phyllidas Besuch hatte das geändert. Leonard konnte jetzt nachvollziehen, woMadeleines Eigenheiten herstammten: warum sie
«rum»
statt
«room»
sagte, warum sie Worcestersauce mochte, warum sie glaubte, bei offenem Fenster zu schlafen sei sogar in frostigen Nächten gesund. Die Bankheads waren nicht vom Schlag der Fenster-offen-Lasser. Sie ließen ihre Fenster lieber zu und die Rollos unten. Madeleine war für Sonnenlicht und gegen Staub; sie war für Frühjahrsputz, für Teppichklopfen über Verandageländern, dafür, das Haus oder die Wohnung so frei von Spinnweben und Dreck zu halten, wie man seinen Geist frei von Unentschiedenheit oder trübsinniger Grübelei hielt. Die Souveränität, mit der sie Auto fuhr (sie behauptete oft, Sportler seien die besseren Fahrer), ließ ein argloses Selbstvertrauen erkennen, das Leonard bei all seiner Intelligenz und Originalität fehlte. Am Anfang verabredete man sich mit einem Mädchen, weil man bei dessen bloßem Anblick weiche Knie bekam. Man verliebte sich in sie und wollte sie auf keinen Fall wieder ziehen lassen. Trotzdem, je mehr man über sie nachdachte, desto weniger wusste man, wer sie war. Die Hoffnung bestand darin, dass die Liebe alle Unterschiede überwinden würde. Das war die Hoffnung. Die wollte Leonard nicht aufgeben. Noch nicht.
    Er beugte sich vor, öffnete das Handschuhfach, sah die Kassetten durch und holte eine mit Joan Armatrading heraus. Er legte sie ein.
    «Das signalisiert mitnichten eine Billigung meinerseits», sagte er.
    «Ich liebe diese Kassette!», sagte Madeleine vorhersehbarerweise, liebenswerterweise. «Stell lauter!»
    Die spätherbstlichen Bäume waren kahl, als sie nach Boston hineinfuhren. Am Charles River entlanglaufende Jogger trugen Trainingshosen und Kapuzenshirts, atmeten Dunstwolken aus.
    Leonard war eine Dreiviertelstunde zu früh da. Statt das Krankenhaus zu betreten, ging er in einen benachbarten Park. Der Park war ungefähr im selben Zustand wie er selbst. Die Bank, auf die er sich setzte, sah aus, als hätten Biber an ihr genagt. Zehn Meter entfernt erhob sich das mit Graffiti besprühte Standbild eines
Minuteman
aus dem kümmerlichen Gras. Mit ihren Steinschlossgewehren hatten die Minutenmänner für die Freiheit gekämpft und gewonnen. Hätten sie aber Lithium genommen, wären sie keine Minutenmänner gewesen. Sie wären Fünfzehnminutenmänner gewesen oder Halbstundenmänner. Sie hätten lange gebraucht, bis sie ihre Gewehre geladen hätten und auf dem Schlachtfeld angekommen wären, und in der Zwischenzeit hätten die Engländer gewonnen.
    Um elf Uhr war Leonard ins Krankenhaus gegangen, um Perlmann seinen Fall vorzutragen.
    «Also, Sie haben mit Vorsatz aufgehört, Ihr Lithium zu nehmen. Die Frage ist nur, warum haben Sie das getan?
    «Weil ich die Nase voll hatte. Ich hatte die Nase voll davon, wie ich mich fühlte.»
    «Und wie fühlten Sie sich?»
    «Blöd. Langsam. Halb tot.»
    «Depressiv?»
    «Ja», gestand Leonard.
    Perlmann machte eine Pause und lächelte. Er legte eine Hand auf seinen Kahlkopf, wie um eine brillante Erkenntnis festzuhalten. «Sie

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