Die Liebeshandlung
letzten Mal in einer Wochenschau aus den dreißiger Jahren gehört hatte, war allerdings erstaunlich. In den ersten zehn Minuten, in denen er sie im Labor herumführte, dachte er, sie spiele Theater. Das gesamte Erlebnis war wie ein Besuch Ihrer Majestät. Phyllida war ganz Haarfrisur und Handtasche, stellte in schrillem Ton Fragen und war begierig darauf, durch ein Mikroskop zu schauen und über die neueste wissenschaftliche Arbeit ihrer Untertanen informiert zu werden. Leonard freute sich zu bemerken, dass Phyllida klug und sogar humorvoll war. Er legte den Strebergang ein, erklärte die Besonderheiten vonHefe und fühlte sich einen Augenblick lang wie ein richtiger Biologe.
Der schwierige Teil des Treffens war die Schwester. Trotz Madeleines wiederholter Behauptung, ihre Familie sei «normal» und «glücklich», vermittelte ihm Alwyn einen anderen Eindruck. Die von ihr ausgehende Feindseligkeit war so leicht zu sehen wie Bromphenolblau. Ihr verquollenes Sommersprossengesicht hatte die gleichen Bestandteile wie Madeleines, nur in den falschen Proportionen. Offenbar hatte sie ihr Leben lang darunter gelitten, die weniger hübsche Schwester zu sein. Alles, was er sagte, schien sie zu langweilen und ihr körperliches Unbehagen zu verursachen. Er war erleichtert, als Madeleine mit den beiden abzog.
Im Großen und Ganzen fand er, der Besuch sei halbwegs gut gelaufen. Er hatte nicht allzu sichtlich gezittert; er hatte es geschafft, seinen Teil zum Gespräch beizutragen und Phyllida mit höflichem Interesse anzusehen. Als er am Abend nach Hause kam, begrüßte ihn Madeleine mit nichts anderem bekleidet als einem Badetuch. Dann legte sie auch dieses ab. Er führte sie zum Bett hinüber und bemühte sich, nicht zu viel zu denken. Als er seine Hose auszog, beruhigte ihn seine absolut angemessene Erektion. Er versuchte, die kleine Gelegenheit auszunutzen, doch die Praxis der Geburtenkontrolle schloss das Fenster genauso schnell, wie es sich aufgetan hatte. Und dann fing er peinlicherweise an zu weinen. Sein Gesicht in die Matratze zu drücken und zu heulen. Wer wusste schon, ob das Gefühl echt war? Vielleicht kam es bloß von dem Medikament. Die berechnende Präsenz, die in seinem Hinterkopf weste, stellte sich vor, Weinen würde Madeleine ihm gegenüber erweichen, würde sie ihm nahebringen. Und es klappte. Sie wiegte ihn, streichelte ihm den Rücken und flüsterte, dass sie ihn liebe.
An diesem Punkt musste er eingeschlafen sein. Als er aufwachte, war er allein. Der Kissenbezug war feucht, genauso wie das Laken unter ihm. Der Wecker zeigte 22 : 17. Er lag im Dunkeln, sein Herz schlug heftig vor Angst, Madeleine könnte für immer gegangen sein. Nach einer halben Stunde stand er auf und nahm ein Lorazepam; er schlief bald wieder ein.
Am Freitag darauf trug Leonard seinen Fall in Perlmanns Sprechzimmer im Massachusetts General Hospital vor.
«Ich nehme seit Juni 1800 Milligramm. Jetzt haben wir Oktober. Das sind vier Monate.»
«Sie scheinen das Lithium doch ganz gut zu vertragen.»
«Gut? Sehen Sie sich meine Hand an.» Leonard streckte die Hand aus. Sie war reglos wie ein Stein. «Warten Sie’s ab. In einer Minute fängt sie an zu zittern.»
«Ihre Blutwerte sind auch gut. Nierenfunktion, Schilddrüsenfunktion – beide in Ordnung. Ihre Nieren scheiden das Zeug wirklich schnell aus. Deshalb brauchen Sie eine so hohe Dosis, damit Ihr Lithiumspiegel wirksam bleibt.»
Leonard war mit Madeleine im Saab nach Boston gefahren. Am Abend zuvor, kurz nach zehn, hatte Kilimnik Leonard zu Hause angerufen und ihm gesagt, er benötige am nächsten Morgen einen neuen Probenansatz, Leonard möge ihn in dieser Nacht herstellen. Leonard war im Dunkeln ins Labor hinübergegangen, hatte die Gelgießschalen laufen lassen, die DNA sichtbar gemacht und die Fragmentbilder auf Kilimniks Schreibtisch gelegt. Im Hinausgehen bemerkte er, dass Beller oder Jaitly eins der Mikroskope angelassen hatte. Er wollte die Beleuchtung schon ausmachen, als er feststellte, dass ein Präparat auf dem Objektträger war. Er beugte sich hinunter, um einen Blick darauf zu werfen.
Der Blick durch ein Mikroskop erfüllte Leonard noch immer mit demselben Staunen wie beim ersten Mal, als er durch ein gebrauchtes Modell von Toys«R»Us schaute, das er mit zehn zu Weihnachten bekommen hatte. Es fühlte sich immer kinetisch an, als sähe er nicht durch die Linse eines Objektivs, sondern tauchte kopfüber in die mikroskopische Welt ein. Das Okular war
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