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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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die bereits verschwunden waren. Er musste auch überschlagen, wann ihm normalerweise seine Medikamente ausgehen würden, um sie in solchen Abständen aufzufüllen, dass kein Verdacht aufkam. All das fiel ihm jetzt, da sein Gehirn wieder arbeitete, ganz leicht.
    Das Problem mit dem Superman-Sein bestand darin, dass alle anderen so langsam waren. Sogar an einem Ort wie Pilgrim Lake, wo jeder einen hohen IQ hatte, machten die Leute beim Reden genügend lange Pausen, dass Leonard seine Wäsche zur Reinigung bringen und wieder zurückkehren konnte, bevor sie ihren Satz beendet hatten. Also beendete er ihre Sätze für sie. Um allen Zeit zu sparen. Wenn man gut aufpasste, war es erstaunlich einfach, vom Subjekt eines Satzes auf sein Prädikat zu schließen. Den meisten Leuten schienen nur wenige Gesprächsvarianten einzufallen. Trotzdem mochten sie es nicht, wenn man ihre Sätze beendete. Oder: Zunächst mochten sie es. Zunächst dachten sie, es lasse auf ein gegenseitiges Verständnis zwischen ihnen beiden schließen. Doch wenn man es wiederholt machte, wurden sieärgerlich. Was in Ordnung war, weil es bedeutete, dass man keine Zeit mehr damit verlieren musste, sich mit ihnen zu unterhalten.
    Schwieriger war es bei dem Menschen, mit dem man zusammenlebte. Madeleine beschwerte sich darüber, wie «ungeduldig» Leonard war. Sein Tremor mochte weg sein, dafür wippte er dauernd mit dem Fuß. Schließlich, an ebenjenem Nachmittag, als er Madeleine beim Lernen für die Zulassungsprüfung half, hatte Leonard, unglücklich über das Tempo, mit dem Madeleine ein logisches Problem als Diagramm darstellte, ihr den Stift aus der Hand gerissen. «Wir sind hier nicht auf der Kunstakademie», sagte er. «Du schaffst das nicht, wenn du so langsam machst. Na
los
!» Er zeichnete in zirka fünf Sekunden das Diagramm und lehnte sich dann, die Hände über der Brust verschränkt, voller Genugtuung zurück.
    «Gib mir meinen Stift», sagte Madeleine und schnappte ihn sich.
    «Ich zeig dir bloß, wie man es macht.»
    «Würdest du bitte rausgehen!», rief Madeleine. «Du gehst mir auf die Nerven.»
    Und so kam es, dass Leonard ein paar Minuten später das Domizil räumte, um Madeleine lernen zu lassen. Er beschloss, zu Fuß nach Provincetown zu gehen, um noch mehr abzunehmen. Trotz der Kälte trug er nur einen Pullover, Handschuhe und seine neue Winterkopfbedeckung, eine Trapperfellmütze mit Ohrenklappen, die man zusammenbinden konnte. Der Winterhimmel war blau, als er das Laborgelände verließ und die Shore Road entlangging. Der noch nicht zugefrorene Pilgrim Lake stand voll Röhricht. Die Dünen ringsum sahen vergleichsweise groß aus und waren, nur nicht auf dem weißen Streifen Sand im oberen Teil, woder Wind verhinderte, dass irgendetwas wuchs, mit Seegrasbüscheln gespickt.
    Wenn er allein war, vergrößerte sich die ihn bombardierende Informationsmenge. Niemand war in der Nähe, der ihn davon hätte ablenken können. Im Gehen stauten sich in seinem Kopf die Gedanken wie der Luftverkehr über dem Logan Airport im Nordwesten. Ein oder zwei Jumbojets voller großer Ideen, eine Flotte Boeing 707, beladen mit einer Fracht sinnlicher Eindrücke (die Farbe des Himmels, der Geruch des Meeres) sowie Learjets mit kostbaren Impulsen an Bord, die inkognito zu reisen wünschten. All diese Luftfahrzeuge verlangten gleichzeitig Landeerlaubnis. Vom Kontrollturm in seinem Kopf funkte Leonard sie an, wies manche in die Warteschleife und dirigierte andere ganz woandershin. Der Verkehrsstrom nahm kein Ende; die Aufgabe, ihre Ankunft zu koordinieren, war eine Konstante von der Minute an, in der er aufwachte, bis zur Minute, in der er schlafen ging. Doch nach zwei Wochen am Sweet Spot International Airport war er ein alter Hase. Indem er die Vorgänge auf seinem Radarschirm verfolgte, konnte er jeden Flieger auf die Minute genau hereinholen, während er mit dem neben ihm sitzenden Fluglotsen Sprüche klopfte und ein Sandwich aß, sodass alles kinderleicht aussah. Eben wie ein Teil des Jobs.
    Je mehr man fror, desto mehr Kalorien verbrannte man.
    Seine überschwängliche Stimmung, das stete Pumpen seines Herzens und die dicke, weiche Pelzmütze reichten, um Leonard warm zu halten, während er an den am Wasser gelegenen Villen und den geschindelten Saltbox-Häusern entlangging, die sich in den Sträßchen dahinter drängten. Doch als er schließlich im Stadtzentrum ankam, war er überrascht, wie menschenleer es war, sogar am Wochenende. Die Geschäfte und

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