Die Liebeshandlung
Gehtsoeinigermaßen. Die Ärzte wollten nicht bis an die Grenze gehen, weil es zu gefährlich und zu schwierig war. Gebraucht wurde jemand, der wagemutig, verzweifelt und intelligent genug war, mit Dosierungen außerhalb der klinischen Empfehlungen zu experimentieren, das heißt jemand wie Leonard selbst.
Zuerst nahm er einfach weniger Tabletten. Doch dann, als es notwendig wurde, die Dosis in kleineren Schritten als 300 Milligramm zu verringern, begann er seine Tabletten mit einem Schablonenmesser zu zerschneiden. Das ging eigentlich gut, aber manchmal sprangen Tabletten auf den Fußboden, wo er sie nicht finden konnte. Schließlich kaufteer sich in der Apotheke von P’town einen Tablettenteiler. Die länglichen 30 0-Milligramm -Lithium-Tabletten waren leicht zu halbieren, aber weniger leicht zu vierteln. Leonard musste eine Tablette zwischen die mit Schaumstoff überzogenen Zacken in dem Zerschneider stecken und den Deckel schließen, damit sich die Klinge senkte. Wenn er eine Tablette in Fünftel oder Sechstel zerteilte, musste er über den Daumen peilen. Er ging es langsam an, verringerte seine Tagesdosis eine Woche lang auf 1600 Milligramm und dann auf 1400 Milligramm. Da Perlmann versprochen hatte, es in weiteren sechs Monaten selbst so zu machen, sagte Leonard sich, er beschleunige die Sache bloß. Aber dann senkte er seine Dosis auf 1200 Milligramm. Und dann auf 1000. Und schließlich bis hinunter auf 500.
In einem Moleskin-Notizheft führte Leonard genau Buch über die täglichen Dosierungen und beschrieb seinen körperlichen und geistigen Zustand im Tagesverlauf.
30. Nov.: Morgens: 600 mg . Abends: 600 mg .
Wattemund. Wattekopf. Tremor allenfalls schlimmer. Starker Metallgeschmack im Speichel.
3. Dez.: Morgens 400 mg . Abends 600 mg .
Gute Phase heute Morgen. Wie ein geöffnetes Fenster in meinem Tower-von-London-Kopf, und ich konnte einige Minuten lang hinaussehen. Hübsch da draußen. Obwohl die Galgen wahrscheinlich bereits im Bau sind. Auch Tremor möglicherweise geringer.
6. Dez.: Morgens 300 mg . Abends 600 mg .
Vier Pfund abgenommen. Tagsüber meistens gute mentale Energie. Tremor etwa gleich. Weniger Durst.
8. Dez.: Morgens 300 mg . Abends 500 mg .
Kam durch die Nacht, ohne aufs Klo zu müssen. Den ganzen Tag geistig hellwach. 150 Seiten Ballard gelesen, ohne Luft zu schnappen. Mund nicht trocken.
10. Dez.: Morgens 200 mg . Abends 300 mg .
Beim Abendessen etwas zu aufgedreht. M. stellte mein Weinglas außer Reichweite, dachte, ich trinke zu viel. Werde Morgendosis die nächsten zwei Tage auf 300 mg . erhöhen, um mich zu stabilisieren.
Hypothese: Nierenfunktion möglicherweise nicht so gut, wie Dr. P. denkt? Oder es gibt Schwankungen? Falls das Lithium nicht aus dem Körper gespült wird, ist zu vermuten, dass ein Zuviel an Lithium im Körper bleibt und seine üble Pflicht tut? Wenn ja, könnte das die Ursache von Hirneintrübung, Magen-Darm-Problemen, Benommenheit usw. sein? Tagesdosis ist daher effektiv vielleicht höher, als Ärzte meinen. Darüber sollte man nachdenken …
14. Dez.: Morgens 300 mg . Abends 600 mg .
Stimmungsmäßig wieder auf dem Boden der Realität. Auch keine merkliche Rückkehr von Nebenwirkungen. Bei dieser Dosis ein paar Tage bleiben, dann wieder senken.
Die Idee, er betreibe wissenschaftliche Feldforschung von großer Wichtigkeit, schlich sich so sanft in Leonards Kopf, dass er es erst gar nicht merkte. Sie war plötzlich einfach
da
. Er folgte der waghalsigen Tradition von Wissenschaftlern wie J. B. S. Haldane, der sich in eine Unterdruckkammer zwängte, um die Auswirkungen des Tiefseetauchens zu erforschen(und sich dabei das Trommelfell perforierte), oder Stubbins Ffirth, der zum Beweis dafür, dass die Krankheit nicht ansteckend war, Erbrochenes von einem an Gelbfieber Erkrankten auf seine eigenen Schnittwunden geschüttet hatte. Bei Leonards Highschool-Helden Stephen Jay Gould hatte man erst im Jahr zuvor einen Bauchfelltumor diagnostiziert und ihm noch acht Monate zu leben gegeben. Gerüchte machten die Runde, Gould habe seine eigene experimentelle Behandlung entwickelt, und es gehe ihm gut.
Leonard plante, Dr. Perlmann das, was er tat, zu gestehen, sobald er genügend Daten gesammelt hatte, um seine Hypothese zu beweisen. Bis dahin musste er so tun, als befolgte er die Anweisungen. Das erforderte, Nebenwirkungen vorzutäuschen,
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