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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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nur eine richtige Hochzeitsreise machen würde und diese nun verdorben war. Sie dachte daran, Leonards Mutter oder Schwester anzurufen, hatte aber die Nummern nicht und wollte ohnehin nicht mit ihnen sprechen, weil sie auch ihnen irgendwie die Schuld gab.
    Und dann war Phyllida da, einen Gepäckträger im Schlepptau, wie aus dem Ei gepellt und mit adretter Frisur. Alles, was Madeleine sonst an ihrer Mutter hasste – ihre unerschütterliche Geradheit, ihren Mangel an sichtbarem Gefühl   –, war genau das, was sie im Augenblick brauchte. Sie brach zusammen, lag schluchzend auf dem Schoß ihrer Mutter. Phyllida reagierte, indem sie ein Mittagessen aufs Zimmer bestellte. Sie wartete, bis Madeleine eine vollständige Mahlzeit verzehrt hatte, bevor sie überhaupt zu fragen begann, was passiert war. Kurz darauf rief Mark Walker mit der Nachricht an, dass jemand, auf den Leonards Beschreibung passte, am frühen Morgen im Princess Grace Hospital eingeliefert worden war, mit Anzeichen einer Psychose und geringfügigen Verletzungen, die von einem Sturz herrührten. Der Mann, der einen amerikanischen Akzent hatte, war ohne Hemd und ohne Schuhe am Strand aufgefunden worden und trug keinen Ausweis bei sich. Walker bot an, von Marseille herüberzukommen und Madeleine und Phyllida ins Krankenhaus zu begleiten, um herauszufinden, ob diese Person, wie es den Anschein hatte, Leonard war.
    Während sie auf Walker warteten, forderte Phyllida Madeleine auf, sich frischzumachen, damit sie vorzeigbar aussah, wodurch sie sich, behauptete sie, besser würde beherrschenkönnen, was tatsächlich der Fall war. Walker, ein Ausbund an Tüchtigkeit und Takt, holte sie in einem Konsulatswagen mit Chauffeur ab. Dankbar für seine Unterstützung, tat Madeleine ihr Bestes, den Eindruck zu machen, als stünde sie nicht vor dem Zusammenklappen.
    Das Princess Grace Hospital, zu Ehren des ehemaligen amerikanischen Filmstars kürzlich umbenannt, war der Ort, wo sie im Jahr zuvor an den Folgen eines Autounfalls gestorben war. Zeichen der Trauer waren im Krankenhaus noch zu sehen: ein schwarzer Flor über dem Ölporträt der Fürstin in der Haupthalle und Anschlagtafeln mit Kondolenzbriefen aus aller Welt. Walker stellte sie Dr.   Lamartine vor, einem hageren Psychiater mit totenkopfähnlichem Gesicht, der erklärte, Leonard sei zurzeit stark sediert. Ihm werde ein Antipsychotikum von Rhône-Poulenc verabreicht, das in den Staaten nicht erhältlich sei. Er, Dr.   Lamartine, habe mit dem Medikament in der Vergangenheit ausgezeichnete Ergebnisse erzielt und sehe keinen Grund, weshalb es im vorliegenden Fall anders sein sollte. Die klinischen Ergebnisse des Medikaments seien sogar so herausragend, dass die Weigerung der zuständigen U S-Behörde , es zuzulassen, einem Rätsel gleichkomme – oder vielleicht auch nicht, fügte er in wissendem Klageton hinzu, angesichts der Tatsache, dass das Medikament nicht
made in America
sei. An diesem Punkt schien er sich an Leonard zu erinnern. Seine körperlichen Schäden seien die folgenden: abgebrochene Zähne, Prellungen im Gesicht, eine gebrochene Rippe und geringfügige Hautabschürfungen. «Er schläft jetzt», sagte der Arzt. «Sie können reingehen und ihn sehen, aber bitte lassen Sie ihn schlafen.»
    Madeleine ging allein hinein. Bevor sie den Vorhang um das Bett auseinanderschob, konnte sie den Tabak riechen,den Leonards Haut ausdünstete. Beinahe erwartete sie, ihn im Bett sitzen und rauchen zu sehen, aber die Person, die sie vorfand, war weder der sprunghafte, wilde Leonard noch der gebeutelte, verschlossene, war weder manisch noch depressiv, sondern bloß ein regloses Unfallopfer. Ein Schlauch führte in seine Armvene. Die rechte Gesichtshälfte war geschwollen, seine geplatzte Oberlippe genäht, auf dem dunkelvioletten Fleisch ringsum bildete sich eine Kruste. Der Arzt hatte ihr zwar geraten, ihn nicht aufzuwecken, aber sie beugte sich trotzdem über ihn und hob vorsichtig seine Oberlippe an. Was sie sah, verschlug ihr den Atem: Leonards Frontzähne waren beide an der Wurzel abgebrochen. Hinter der Lücke glänzte rosa Zunge.
    Was passiert war, konnte nie ganz geklärt werden. Leonard war zu sehr neben der Spur gewesen, um sich an die vergangenen sechsunddreißig Stunden zu erinnern. Vom Casino de Monte-Carlo war er zu dem Restaurant gegangen, in dem die Schweizer Banker zu Abend aßen. Er hatte kein Geld, aber er überzeugte sie davon, dass er eine narrensichere Methode des Kartenzählens kannte. Nach

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