Die Liebeshandlung
den sie zur Halle gelangten. Ein paar Minuten später traten sie in die Hitze und die Helligkeit der Eighth Avenue hinaus. Es war kurz nach sechs.
Als sie sich in der Taxischlange anstellten, beäugte Leonard die Gebäude in der Nähe, als machte er sich Sorgen, dass sie gleich auf ihn herabstürzen würden.
«‹New York›», sagte er. «‹Genau so, wie ich es mir erträumt habe.›»
Es war sein letzter kleiner Scherz. Als sie in einem Taxi Richtung Uptown saßen, fragte Leonard den Fahrer, ob er bitte die Klimaanlage anstellen könne. Der Fahrer sagte, sie sei kaputt. Leonard drehte das Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus wie ein Hund. Einen Moment lang bereute Madeleine, ihn mitgenommen zu haben.
Ihr Vorgefühl im Casino de Monte-Carlo war zutreffender gewesen, als sie zu der Zeit auch nur geahnt hatte. Sie war längst zu der zitternden Ehefrau, zu der stets wachsamen Aufseherin geworden. Längst war sie «mit der manischen Depression verheiratet». Es war nichts Neues mehr für sie, dass Leonard sich umbringen konnte, während sie schlief. Ihr war auch schon durch den Kopf gegangen, der Pool könnte zur Selbstauslöschung einladen. Von den einundzwanzig Anzeichen auf der Liste, die Wilkins ihr gegeben hatte, hatte sie zehn angekreuzt: Veränderung des Schlafmusters; Unwille zu kommunizieren; Vernachlässigung der Arbeit; Verwahrlosung; Rückzug von Menschen/Aktivitäten; Perfektionismus; Rastlosigkeit; extreme Langeweile; Depression; Persönlichkeitsveränderungen. Die anderen Warnzeichen ließ Leonard nicht erkennen: Er hatte früher keinen Selbstmordversuch unternommen (obwohl er daran gedacht hatte), konsumierte (zurzeit) keine Drogen, war nicht anfällig für Unfälle, sprach nicht davon, sterben zu wollen, und hatte seine Besitztümer nicht weggegeben. Andererseits hatte Leonard sich noch am Morgen, als er zu ihr sagte, er wolle nicht mehr nach New York ziehen, und von «ihrer» Wohnung redete, doch sehr nach einem Menschen angehört, der seine Besitztümer weggibt. Die Zukunft schien ihn nicht mehr zu interessieren. Er wusste nicht, was er machen würde. Er wollte keinArbeitszimmer. Er hatte diese schwarzen Shorts seit zwei Wochen an.
Zehn Warnzeichen von einundzwanzig. Nicht sehr beruhigend. Doch als sie Dr. Wilkins darauf aufmerksam machte, sagte er: «Wenn Leonard keinerlei Warnzeichen aufwiese, wären Sie nicht hier. Unsere Aufgabe ist es, die Zahl nach und nach auf drei oder vier zu reduzieren. Vielleicht auf eins oder zwei. Ich bin zuversichtlich, dass wir das mit der Zeit hinkriegen.»
«Was ist bis dahin?», fragte Madeleine.
«Bis dahin müssen wir sehr sorgsam vorgehen.»
Sie versuchte, sorgsam vorzugehen, aber es war nicht leicht. Madeleine hatte Leonard nach New York mitgenommen, um das Risiko zu vermeiden, ihn unbeaufsichtigt zu Hause zu lassen. Aber nun, da er in der Stadt war, bestand das Risiko, dass er eine Panikattacke bekam. Sie hatte die Wahl gehabt, ihn in Prettybrook zu lassen und sich Sorgen zu machen oder ihn nach New York mitzunehmen und sich Sorgen zu machen. Im Allgemeinen machte sie sich weniger Sorgen, wenn sie ihn im Auge behalten konnte.
Sie war das, was zwischen Leonard und dem Tod stand. So fühlte es sich für sie an. Weil sie die Warnzeichen jetzt kannte, hielt sie ständig danach Ausschau. Schlimmer noch, sie hielt Ausschau nach Veränderungen in Leonards Stimmung, die
Vorboten
der Warnzeichen sein konnten. Hielt Ausschau nach
Warnzeichen
der Warnzeichen. Und das machte es verwirrend. Zum Beispiel wusste sie nicht, ob Leonards frühes Aufstehen eine neuerliche Veränderung seines Schlafmusters darstellte, Teil der vorigen Veränderung seines Schlafmusters war oder eine günstige Entwicklung anzeigte. Sie wusste nicht, ob sein Perfektionismus seinen Mangel an Ehrgeiz ausglich oder ob es die zwei Seiten derselben Medaille waren. Wenn man zwischeneinem Menschen, den man liebt, und dem Tod steht, fällt es einem schwer, wach zu sein, und es fällt einem schwer zu schlafen. Wenn Leonard nachts aufblieb und fernsah, kontrollierte Madeleine ihn von ihrem Bett aus. Sie konnte nie richtig einschlafen, bis er nach oben kam und sich neben sie ins Bett legte. Sie lauschte auf die Geräusche, die er unten machte. Es war, als wäre ihr Herz aus ihrem Körper herausoperiert worden und würde an einem entfernten Ort aufbewahrt, zwar noch mit ihr verbunden und in der Lage, Blut durch ihre Adern zu pumpen, aber Gefahren ausgesetzt, die sie nicht sehen konnte: ihr
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