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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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zu sein.»
    «Das ist ein staatliches Krankenhaus. Hier kommen die hin, die nicht das Geld haben, sich was wie Silverlake zu leisten.»
    «Leonard ist ein bisschen enttäuscht», erklärte Henry, «dass er nicht in Gesellschaft von Erster-Klasse-Depressiven ist.»
    Madeleine wusste nicht, wer Henry war und weshalb er sich hier aufhielt. Seine Witzelei kam ihr unsensibel, wenn nicht sogar bösartig vor. Aber Leonard schien sich nicht daran zu stören. Er nahm alles, was Henry sagte, wie ein armer Jünger in sich auf. Das und die Art und Weise, wie er gelegentlich an seiner Oberlippe saugte, waren die einzigen Dinge, die merkwürdig an ihm waren.
    «Die Kehrseite von Selbstverachtung ist Grandiosität», bemerkte Leonard.
    «Richtig», sagte Henry. «Also wenn du schon durchknallst, willst du mindestens so durchknallen wie Robert Lowell.»
    Auch die Wahl des Wortes
durchknallen
fand Madeleine nicht gerade ideal. Sie nahm es Henry übel. Zugleich suggerierte die Art und Weise, wie er Leonards Krankheit verharmloste, dass es vielleicht doch nicht so ernst damit war.
    Vielleicht ging Henry ja genau richtig mit dem Ganzen um. Sie war dankbar für jeden Tipp. Aber Lockerheit lag ihr fern. Sie fühlte sich schmerzlich unbeholfen, bekam kein Wort heraus.
    Madeleine war noch nie mit jemandem in Berührung gekommen, der an einer nachweislichen Geisteskrankheit litt. Sie mied labile Menschen instinktiv. So unchristlich diese Haltung sein mochte, war sie doch untrennbar damit verbunden, dass sie eine Hanna war, ein positiv denkender, privilegierter, behüteter, vorbildlicher Mensch. Wenn Madeleine etwas nicht war, dann emotional labil. So stand es jedenfalls im Drehbuch. Aber irgendwann nachdem sie Billy Bainbridge mit zwei Frauen im Bett angetroffen hatte, war Madeleine sich bewusst geworden, dass sie eine hilflose Traurigkeit entwickeln konnte, die einer klinischen Depression nicht unähnlich war; und in den letzten Wochen, als sie wegen der Trennung von Leonard in ihrem Zimmer geschluchzt und sich heillos betrunken und Sex mit Thurston Meems gehabt und ihre letzte Hoffnung darauf gesetzt hatte, an einer Universität angenommen zu werden, von der sie nicht mal wusste, ob sie überhaupt dorthin wollte, gebrochen von Liebe, sinnlos verschwendetem Sex und Selbstzweifeln, hatte sie endgültig erkannt, dass sie und ein geisteskranker Mensch keine einander zwangsläufig ausschließenden Kategorien waren.
    Ein Zitat von Barthes fiel ihr ein:
Jeder Liebende ist verrückt, glaubt man. Vermag man sich aber auch einen liebenden Verrückten vorzustellen?
    «Leonard fürchtet, sie würden ihn auf unbegrenzte Zeit hier festhalten, was, glaube ich, nicht der Fall ist.» Henry redete wieder. «Dir geht’s doch gut, Leonard. Sag der Ärztin einfach, was du mir gesagt hast. Du bist nur zur Beobachtung hier.»
    «Die Ärztin muss gleich anrufen», erklärte Leonard Madeleine.
    «Du hast eine kleine Geisteskrankheit ausgebrütet, um hier reinzukommen, weil du etwas Hilfe nötig hattest», wiederholte Henry. «Und jetzt geht es dir besser, und du bist so weit, nach Hause zu gehen.»
    Leonard beugte sich vor, ganz Ohr. «Ich will einfach nur hier raus», sagte er. «Ich habe drei ‹unvollständig› kassiert. Ich will diese Kurse unbedingt zu Ende bringen und meinen Abschluss machen.»
    Madeleine hatte ihn noch nie so artig gesehen. Der willige Schuljunge, der Starpatient.
    «Das ist gut», sagte Henry. «Das ist vernünftig. Du willst dein Leben zurückhaben.»
    Leonard blickte von Henry zu Madeleine und wiederholte robotermäßig: «Ich will mein Leben zurückhaben. Ich will hier raus und meinen Abschluss machen.»
    Eine Schwester steckte ihren Kopf in den Tagesraum. «Leonard? Frau Dr.   Shieu ist am Telefon.»
    So eifrig wie jemand, der zu einem Vorstellungsgespräch gebeten wird, stand Leonard auf. «Also dann», sagte er.
    «Sag ihr genau das, was du mir gesagt hast», mahnte Henry.
    Als Leonard weg war, blieben die beiden schweigend sitzen. Schließlich hob Henry wieder an.
    «Ich vermute mal, du bist Leonards Freundin», sagte er.
    «Unklar im Moment», erwiderte Madeleine.
    «Er ist mitten in einem Schub, eine Fugue nennt man das.» Henry ließ seinen Zeigefinger in der Luft rotieren. «Ein Endlosband, das sich immer wiederholt.»
    «Aber du hast ihm eben gesagt, es geht ihm gut.»
    «Das muss man ihm ja auch sagen, das braucht er.»
    «Du bist doch kein Therapeut», sagte sie.
    «Nein», sagte Henry. «Aber ich
studiere
Psychologie.

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