Die Liebeshandlung
Das heißt, ich habe eine Menge Freud gelesen.» Er grinste wie eine Grinsekatze, breit, dämlich und kokett.
«Sieh an», sagte Madeleine scharfzüngig, «wo wir doch längst im postfreudianischen Zeitalter angekommen sind.»
Henry trieb seinen Keil mit einem gewissen Vergnügen weiter. «Wenn du Leonards Freundin
bist
», sagte er, «oder daran denkst, es zu
werden
, oder wenn du dir überlegst, zu ihm zurückzukehren, würde ich dir raten: Tu es nicht.»
«Wer bist du überhaupt?»
«Nur jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, wie verführerisch es ist zu glauben, man könne einen anderen durch Liebe retten.»
«Dabei hätte ich geschworen, dass wir uns eben zum ersten Mal begegnet sind», sagte Madeleine. «Und dass du nicht das Geringste von mir weißt.»
Henry stand auf. Mit leicht beleidigter Miene, aber unerschüttertem Selbstvertrauen sagte er: «Man rettet keine anderen Menschen. Man rettet nur sich selbst.»
Damit ließ er sie allein.
Die ungekämmte Frau starrte zum Fernseher hinauf und knüpfte dabei unentwegt den Gürtel ihres Bademantels auf und zu. Eine junge Schwarze, selbst im Collegealter, saß mit zwei anderen, ihren Eltern offenbar, an einem Tisch. Sie schienen an die Umgebung gewöhnt zu sein.
Ein paar Minuten später kehrte Leonard zurück. Die Fraumit den ungekämmten Haaren rief: «Hey, Leonard. Hast du da draußen schon was zu essen gesehen?»
«Nein», sagte Leonard. «Noch nicht.»
«Ich könnte langsam gut was vertragen.»
«Eine halbe Stunde noch, dann wird es da sein», sagte Leonard hilfsbereit.
Er wirkte eher wie ein Arzt als wie ein Patient. Die Frau schien ihm zu vertrauen. Sie nickte und wandte sich ab.
Leonard setzte sich, den Oberköper vorgebeugt, und wippte mit dem Knie.
Madeleine suchte nach etwas, was sie sagen konnte, aber alles, was ihr in den Sinn kam, hörte sich nach einem Vorwurf an.
Wie lange bist du schon hier drin? Weshalb hast du es mir nicht gesagt? Stimmt es, dass sie die Diagnose schon vor drei Jahren gestellt haben? Weshalb hast du mir verschwiegen, dass du Medikamente nimmst? Meine Mitbewohnerinnen wussten Bescheid, nur ich nicht!
Sie entschied sich für: «Was hat die Ärztin gesagt?»
«Sie will mich noch nicht entlassen», sagte Leonard monoton, um Haltung bemüht. «Im Augenblick will sie nicht einmal über die Entlassung
reden
.»
«Versuch, mit ihr klarzukommen. Ruh dich doch einfach aus. Ich wette, du schaffst die Sachen für deinen Collegeabschluss auch hier drinnen.»
Leonard blickte sich nach beiden Seiten um, sprach so leise, dass niemand es hören konnte. «Etwas anderes bleibt mir wohl auch gar nicht übrig. Wie gesagt, das ist ein staatliches Krankenhaus.»
«Und das heißt?»
«Das heißt, hier wird man hauptsächlich mit Medikamenten zugedröhnt.»
«Nimmst du welche?»
Er zögerte mit der Antwort. «Vor allem Lithium. Das schon seit einer Weile. Sie stellen gerade meine Dosis neu ein.»
«Hilft es denn?»
«Ein paar Nebenwirkungen, aber na gut. Im Wesentlichen ist die Antwort ja.»
Es war schwer zu sagen, ob das tatsächlich stimmte oder nur Leonards Wunschvorstellung war. Er schien intensiv auf Madeleines Gesicht konzentriert zu sein, als verriete es ihm entscheidende Informationen.
Er drehte sich abrupt um und betrachtete, sich die Wangen reibend, sein Spiegelbild im Fenster.
«Wir dürfen uns nur einmal in der Woche rasieren», sagte er. «Die ganze Zeit muss ein Pfleger dabeistehen.»
«Warum?»
«Rasierklingen. Darum sehe ich so aus.»
Madeleine schaute sich kurz um, ob jemand in Hörweite war. Aber da war niemand.
«Warum hast du mich nicht angerufen?», fragte sie.
«Wir hatten uns getrennt.»
«Leonard! Wenn ich gewusst hätte, dass du eine Depression hast, wäre das ohne Bedeutung gewesen.»
«Die Trennung war ja der
Grund
für meine Depression.»
Das war eine Neuigkeit. Eine auf unpassende, aber reale Weise sogar gute Neuigkeit.
«Ich habe unsere Beziehung sabotiert», sagte Leonard. «Das erkenne ich jetzt. Ich bin jetzt in der Lage, ein bisschen klarer zu denken. Das kommt dabei heraus, wenn man so aufgewachsen ist wie ich, in einer Familie von Alkoholikern, dann fängt man notgedrungen an, Krankheit und gestörtes Verhalten für normal zu halten. Krank und gestört zu sein ist für mich normal. Was nicht normal ist, sind Gefühle …» Erstockte. Mit gesenktem Kopf, die dunklen Augen aufs Linoleum gerichtet, sprach er weiter: «Erinnerst du dich an den Tag, als du mir gesagt hast, dass du
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