Die Liebeshandlung
damit, zu Ehren der x-ten Abschlussfeierden Berg hinunterzuparadieren, getragen, wie es schien, von einem absoluten Hochgefühl.
Am Endpunkt seiner Collegelaufbahn blieb Mitchell dieser verblüffende Anblick: Herr Professor Dr. Richter, der mit einem Leuchten kindlicher Freude im Gesicht, das im Seminar über Religion und Entfremdung nie zu sehen gewesen war, herangetänzelt kam. Als hätte er das Heilmittel gegen Entfremdung gefunden. Als hätte er dem Altern einen Streich gespielt.
***
«Gratuliere!», sagte der Taxifahrer.
Madeleine blickte auf, einen Moment lang verwirrt, bevor ihr wieder einfiel, was sie anhatte.
«Danke», sagte sie.
Da die meisten Straßen in der Campus-Gegend gesperrt waren, fuhr der Fahrer einen langen Umweg, die Hope Street hinunter zur Wickenden.
«Sind Sie Medizinstudentin?»
«Wie bitte?»
Der Fahrer hob die Hände vom Steuer. «Wir fahren doch zum Krankenhaus, oder? Da habe ich gedacht, Sie wollen vielleicht Ärztin werden.»
Den Blick aus dem Fenster gerichtet, antwortete Madeleine beinahe unhörbar: «Nein, nicht ich.» Der Fahrer nahm es zur Kenntnis und verstummte für den Rest des Wegs.
Als das Taxi den Fluss überquerte, legte Madeleine Kappe und Robe ab. Im Innern des Wagens roch es nach einem Lufterfrischer, etwas Unaufdringlichem, wie Vanille. Madeleine hatte Lufterfrischer immer gemocht. Sie hatte sich nie etwas dabei gedacht, bis Leonard ihr eines Tages sagte, dasdeute auf eine Bereitschaft von ihr hin, unerfreuliche Realitäten zu verdrängen. «Es ist ja nicht so, dass der Raum weniger schlecht riechen würde», hatte er gesagt. «Die Sache ist nur die, dass du es nicht mehr riechst.» Sie glaubte, ihn bei einem logischen Widerspruch ertappt zu haben, und rief: «Wie soll ein Raum schlecht riechen, wenn er gut riecht?» Worauf Leonard erwiderte: «Oh, na klar riecht er immer noch schlecht. Du verwechselst Eigenschaften mit der Substanz.»
Das war die Art von Unterhaltungen, die sie mit Leonard geführt hatte. Wegen solcher Dinge mochte sie ihn so. Man konnte wer weiß wohin unterwegs sein, wer weiß was gerade machen, und ein Lufterfrischer zog ein kleines Symposion nach sich.
Jetzt fragte sie sich allerdings, ob seine weitverzweigten Gedanken nicht faktisch dorthin geführt hatten, wo er jetzt war.
Das Taxi hielt vor einem Krankenhaus, das an ein ungut in die Jahre gekommenes Holiday Inn erinnerte. Das acht Stockwerke hohe weiße Gebäude mit verglaster Fassade sah schmutzig aus, als hätte es den Dreck der umliegenden Straßen aufgesogen. Die Betonkübel rechts und links vom Eingang enthielten keine Blumen, nur Zigarettenkippen. Eine spinnenartige Gestalt, die Assoziationen an Arbeiterschicksal und Berufskrankheit weckte, katapultierte sich mit einer Gehhilfe durch die perfekt funktionierende automatische Tür.
In der atriumsähnlichen Eingangshalle wandte Madeleine sich zweimal in die falsche Richtung, bevor sie den Empfangstresen fand. Die Frau dahinter warf ihr einen einzigen Blick zu und fragte: «Wollen Sie zu Bankhead?»
Madeleine war verblüfft. Dann schaute sie sich im Warteraum um und stellte fest, dass sie die einzige Weiße war.
«Ja.»
«Geht aber nicht gleich. Sind schon zu viele oben. Sobald jemand runterkommt, lasse ich Sie rauf.»
Das war eine weitere Überraschung. Leonards emotionaler Zusammenbruch, ja die Art und Weise, wie er sich als nicht funktionsfähiger Erwachsener präsentierte, passten nicht zu einem Besucheransturm im Krankenzimmer. Madeleine war eifersüchtig auf die unbekannte Gesellschaft.
Sie trug ihren Namen in eine Liste ein und setzte sich auf einen Platz mit Blick auf die Aufzüge. Der Teppich hatte ein die Stimmung aufhellendes Muster aus blauen Quadraten, die jeweils eine Kinderzeichnung einrahmten: einen Regenbogen, ein Einhorn, eine glückliche Familie. Ein paar Leute hatten sich von einem Schnellimbiss etwas mitgebracht, um während der Wartezeit zu essen, Schaumstoffschalen mit Jamaika-Hühnchen oder gegrillter Rinderbrust. Auf dem Stuhl ihr gegenüber machte ein Kleinkind Nickerchen.
Madeleine starrte auf den Teppich, aber es brachte ihr nichts.
Nach zwanzig langen Minuten öffnete sich die Aufzugtür, und zwei junge Weiße kamen heraus. Beruhigenderweise waren beide männlich. Der eine war groß, mit hochtoupierter B-5 2-Frisur , der andere klein, mit dem berühmten Foto von Einstein, der seine Zunge herausstreckt, auf dem T-Shirt .
«Ich finde, er macht einen guten Eindruck», sagte der Erste.
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