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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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«Scheint ihm besserzugehen.»
    «Das war besser? O Mann, ich brauche eine Zigarette.»
    Sie gingen vorbei, ohne Madeleine zu bemerken.
    Kaum waren sie weg, meldete sie sich wieder am Empfang.
    «Dritter Stock», sagte die Frau und gab ihr einen Passierschein.
    Der Großraumaufzug, so gebaut, dass Transportliegen undmedizinische Gerätschaften hineinpassten, fuhr langsam, mit Madeleine als einzigem Fahrgast, aufwärts. Vorbei an Geburtshilfe und Rheumatologie, an Osteologie und Onkologie, ja über all die Krankheiten hinaus, die einem menschlichen Körper zustoßen können und von denen Leonard keine einzige zugestoßen war, beförderte der Aufzug sie zur Psychiatrischen Abteilung, wo das, was den Menschen zustieß, im Kopf passierte. Durch das, was sie aus Filmen kannte, war sie auf einen Ort strenger Einkerkerung gefasst. Aber außer einem roten Knopf, der die Doppeltüren von außen öffnete (und zu dem es
innen
kein Gegenstück gab), deutete kaum etwas auf eine Zwangsunterbringung hin. Der Flur war hellgrün, das Linoleum blitzblank poliert, es quietschte unter den Füßen. Ein Essenswagen stand an der Wand. Die wenigen Kranken, die in ihren Zimmern zu sehen waren –
Geisteskranke
, dachte Madeleine unwillkürlich   –, vertrieben sich die Zeit, wie alle anderen Genesenden es getan hätten, lasen, dösten, starrten aus dem Fenster.
    Bei der Stationsaufsicht fragte sie nach Leonard Bankhead und wurde in den Tagesraum am Ende des Ganges geschickt.
    Gleich beim Eintreten zuckte Madeleine vor dem Licht zurück. Die Helligkeit im Raum schien an sich schon eine Therapie gegen Depression zu sein. Schatten waren nicht zugelassen. Madeleine kniff die Augen zusammen, während sie ihren Blick über die Resopaltische schweifen ließ, an denen Patienten in Morgenmantel und Schlappen allein oder mit Schuhe tragenden Besuchern saßen. Ein Fernseher war in einer Ecke an ein hohes Regal geschraubt, der Ton laut aufgedreht. Gleichmäßig angeordnete Fenster boten einen Blick auf die vorspringenden und zur Bucht hin abfallenden Dächer der Stadt.
    Leonard saß keine fünf Meter entfernt auf einem Stuhl. Ein Unbekannter mit Brille redete in vorgebeugter Haltung auf ihn ein.
    «Also, Leonard», sagte der Bebrillte. «Du hast eine kleine Geisteskrankheit ausgebrütet, um hier reinzukommen, weil du etwas Hilfe nötig hattest. Und jetzt, wo du drin bist und man dir
geholfen
hat, merkst du, dass es dir wohl doch nicht so schlechtgeht, wie du dachtest.»
    Leonard schien dem, was der andere sagte, gespannt zuzuhören. Anders, als Madeleine angenommen hatte, trug er keinen Bademantel, sondern seine normale Kleidung – sportliches Hemd, Schreinerhose, blaues Bandana auf dem Kopf. Das Einzige, was fehlte, waren seine Timberlands. Leonard hatte vorne offene Krankenhauslatschen an, mit Socken. Seine Bartstoppeln waren länger als sonst.
    «Du hattest ein paar Probleme, auf die in deiner Therapie nicht richtig eingegangen wurde», sagte der Bebrillte, «deshalb musstest du sie aufbauschen, damit sie ein bisschen größer auf die Bühne kamen und man sich darum kümmert.» Wer auch immer dieser Mensch war, er schien ungemein befriedigt von seiner Interpretation. Er lehnte sich zurück und sah Leonard an, als erwartete er Beifall.
    Madeleine nutzte die Gelegenheit, um näher zu treten.
    Als Leonard sie sah, stand er von seinem Stuhl auf.
    «Madeleine. Hey», sagte er sanft. «Danke, dass du gekommen bist.»
    Und damit war die Sache klar: Die Schwere seiner Notlage überwog die Tatsache, dass sie Schluss gemacht hatten. Annullierte sie. Was bedeutete, sie konnte ihn umarmen, sofern sie es denn wollte.
    Aber sie umarmte ihn nicht. Sie fürchtete, Körperkontakt verstieße vielleicht gegen die Regeln.
    «Kennst du Henry?», sagte Leonard, wie es die Höflichkeit gebot. «Madeleine, Henry. Henry, Madeleine.»
    «Willkommen zu den Besuchszeiten», sagte Henry. Er hatte eine tiefe Stimme, die Stimme der Autorität. Er trug ein Madras-Sakko, das unter den Armen kniff, und dazu ein weißes Hemd.
    Die schreckliche Helligkeit im Raum hatte zur Folge, dass die vom Boden zur Decke reichenden Fenster reflektierten, obwohl draußen Tageslicht war. Madeleine sah das Geisterbild ihrer selbst einen gleichermaßen geisterhaften Leonard betrachten. Eine junge Frau, die keinen Besuch hatte – eine Frau im Bademantel mit wildem, ungekämmtem Haar   –, kreiste vor sich hin brabbelnd im Raum.
    «Nettes Plätzchen, was?», sagte Leonard.
    «Scheint ganz passabel

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