Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
schwimmen. «Die Farbe. Hübsch. Und das   …» Er zeigte unsicher auf die Paspel, die Agathe in mühevoller Kleinarbeit selbst genäht hatte. «Das ist sehr   …» Tibo hasste sich in dem Moment selbst. Er konnte vor dem versammelten Stadtrat sitzen und Vorträge über alles halten, über alles streiten, jeden von allem überzeugen und alles anordnen, aber angesichts dieser Frau fiel ihm nichts ein, als «hübsch» zu murmeln. Aber Agathe schien selbst mit diesem «hübsch» zufrieden zu sein. Und sie war es tatsächlich. Der gute Tibo Krovic war der einzige Mann in Dot, der jemals «hübsch» zu ihr sagte. «Hübsch», wiederholte er. «Ach so. Das Gericht.»
    Tibo steckte den Füller wieder ein und verließ das Büro, lief an Anker Skolvigs heroischen Gesten vorbei und fand sich auf dem Rathausplatz wieder.
    Das Gerichtsgebäude von Dot durfte nicht zu den geschmackvollen öffentlichen Bauwerken der Stadt gezählt werden, und Tibos Abscheu wuchs, je näher er kam. Die für den Bau verantwortlichen Stadtväter hatten gepatzt. Sie hatten einen billigen, kotfarbenen Sandstein gewählt, der vom Regen aufgeweicht war und Blasen schlug; im Winter trug der Frost den vergammelten Stein schichtweise ab.
    Und mein über den Eingang gemeißeltes Portrait war undeutlich und verlaufen, beinahe aufgedunsen, ich sah aus wie eine Wasserleiche aus dem Ampersand.
    Draußen vor dem Eingang versammelten sich täglich die ungewaschenen, rauchenden, schwitzenden, zankenden «Kunden» des Gerichts. Der Gehsteig war mit schaumiger Spucke, alten Kaugummis und Zigarettenkippen übersät. Tibo verabscheute diese Leute. Er hasste es, von ihnen zum Bürgermeister gewählt worden zu sein. Er wollte der Bürgermeister ehrlicher, fleißiger Leute sein, die ihre Treppen fegten und ihre Kinder wuschen, bevor sie sie in weiße, saubere Laken zum Schlafen legten. Aber auch für diese Leute war er der Bürgermeister. Er war auch der Bürgermeister des Abschaums. Ob sie sich die Mühe gemacht hatten, zu wählen oder nicht, sie waren sein. Er musste sie beschützen – vor sich selbst und voreinander   –, und er hätte sein Leben für sie gegeben. So viel wusste er, genau wie Anker Skolvig, aber er erwartete besser keine Anerkennung, kein Gemälde mit heroischen Posen und nicht einmal ein gemurmeltes «Danke». Tibo kniff die Lippen zu einer strengen Linie zusammen und marschierte an ihnen vorbei. Niemand sprach ihn an. Der eine oder andere warf ihm böse Blicke zu. Jemand spuckte aus, traf aber nicht ihn, sondern den dreckigen Gehsteig.
    Drinnen im Gericht wurde es nicht besser – die Wände waren in unterschiedlichen städtischen Schlammtönen gehalten, eitergelb, babykackebraun oder schimmelgrün, und der Geruch von Bleiche vermischte sich mit dem Gestank von alten Zigaretten und ungewaschenen Leuten, außerdem war immer irgendwo eine Lampe kaputt oder ganz verschwunden.
    Tibo schaute in den Gerichtssaal. Der Raum war leer, abgesehen von Barni Knorrsen vom Abendblatt, der Zeitung lesend auf der Pressetribüne saß. Im Saal würde es bis zur Eröffnung der Verhandlung ruhig zugehen. Niemand wollte dasRauchen und Spucken einstellen, solange es nicht wirklich nötig war.
    «Hallo, Barni», sagte Tibo.
    «Guten Morgen, Bürgermeister Krovic. Steht heute etwas Aufregendes auf dem Programm?»
    «Leider nicht – wie ich hörte, nur die üblichen Säufer und Schläger.»
    «Ist Ewigkeiten her, seit wir den letzten guten Mord hatten!»
    «Worüber zu urteilen ich glücklicherweise nicht qualifiziert bin», sagte Tibo. «Barni, hören Sie, ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen. Ich habe da etwas, sozusagen aus dem Nichts gegriffen, das ich Ihnen zeigen möchte – ließe sich vielleicht eine hübsche Geschichte draus spinnen? Hier, sehen Sie selbst.» Tibo griff in seine Jacke und zog seine Brieftasche heraus. Darin steckte Agathes Kopie des Briefs an die Umlauter, versehen mit dem handschriftlichen Zusatz «vertraulich».
    «Nein, nicht das», sagte Tibo und legte den Umschlag auf das breite Holzgeländer der Pressetribüne. Barni hatte eine lange Leitung, deswegen sah der arme Tibo sich zu einer Pantomime gezwungen, in deren Verlauf er umständlich in seiner Brieftasche wühlte. «Nein, das auch nicht.» Gütiger Himmel, er hatte bloß vier Taschen. Kein Wunder, dass Barni nie in die Redaktion einer überregionalen Zeitung aufgestiegen war. «Vielleicht sollte ich alles auspacken und die Suche von vorn beginnen.» Endlich nahm Barni seine

Weitere Kostenlose Bücher