Die Liebeslotterie
zusammengefaltete Zeitung, schubste damit den Briefumschlag unauffällig herunter und stellte einen Fuß darauf. «Putzt der Mann sich nie die Schuhe?», fragte sich Tibo. Er räumte seine Brieftasche wieder ein. «Tut mir leid, Sie unnötig aufgehalten zu haben», sagte er. «Es wird sicher wiederauftauchen.»
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Herr Bürgermeister.»
Am hinteren Saalende öffnete sich eine Tür, und der schwarzgekleidete Gerichtsdiener nickte Tibo zu. «Euer Ehren, wir brauchen Sie nun auf dem Richterstuhl. Der Betrieb wird bald eröffnet.»
Tibo gab ihm zu verstehen, dass er bereit sei. «Tut mir leid, Barni», sagte er, «ich muss jetzt los. Ich habe zu arbeiten. Tut mir leid. Wegen dieser anderen Sache melde ich mich bei Ihnen.»
Als Tibo um genau zehn Uhr dreißig seinen Platz auf dem Podium einnahm, schaute er lächelnd zur leeren Pressetribüne hinüber.
Um elf hatte Tibo die ersten beiden Fälle des Tages verhandelt – einen alten Säufer, der eine Nacht in der Zelle hinter sich hatte, und einen Hafenarbeiter, der seine Frau nach einem Kneipenbesuch mit dem Küchenstuhl verprügelt hatte, weil sie ihn nach dem Verbleib seines Lohns gefragt hatte. Beim Säufer lag der Fall klar. Ihm war nicht zu helfen. Er hatte kein Geld, um eine Geldstrafe zu bezahlen, weil er jeden Pfennig, den er mit seinem jaulenden Akkordeon an windigen Straßenecken erbettelte, für den billigsten Fusel ausgab. Jeden Tag konnte man ihn auf einer Bank unter dem großen Ilex auf dem alten Friedhof sitzen und aus der Flasche trinken sehen. Niemand kümmerte sich um ihn, und ihm war es nur recht so. Im nächsten Winter würde man ihn am Boden festgefroren unter einer Decke aus steifen, braunen Ilexblättern finden, und niemand würde um ihn trauern. Gestern Abend war er jedoch, im Tiefschlaf und mit einer in lila Papier eingewickelten Flasche im Arm, von einem Schutzmann entdeckt worden, der neu im Dienst war und beschlossen hatte, seine Pflicht zu tun.
«Dann haben Sie die Nacht also in der Zelle verbracht?», fragte Tibo in einem Tonfall, wie die meisten Leute ihn für schwerhörige Tanten aufbewahren.
«Jassör! Jassör!», krächzte der alte Säufer mit von Erbrochenem verätzten Stimmbändern.
«Besser, als auf dem Friedhof zu schlafen, oder?»
«Jassör! Jassör! Kommt früh genug. Jassör!»
«Haben Sie ein ordentliches Frühstück bekommen?»
«Jassör! Jassör, aber ich hab’s nicht gegessen. Ich mache mir aus Essen nicht so viel.»
«Nein», sagte Tibo, «das kann ich mir vorstellen. Gut. Hören Sie. Ich werde Folgendes tun. Ich werde Sie aus der Haft entlassen. Aber ich will Sie hier nicht wiedersehen, andernfalls drohen schlimme Konsequenzen.»
«Jassör!»
«Haben Sie verstanden?»
«Jassör.»
«Gut. Hinaus mit Ihnen.»
Der alte Mann schlurfte aus der Anklagebank. Als er an ihnen vorbeikam, wichen die anderen vor ihm und dem Gestank seines dicken Tweedmantels zurück, eines widerlichen, befleckten Lumpens. Von seinem hohen Richterstuhl aus konnte Tibo in ihren Gesichtern lesen, was er selbst eben vor dem Gebäude ihnen gegenüber empfunden hatte. Egal, wie tief sie gesunken waren – sie waren immer noch in der Lage, einen tiefer Gesunkenen zu verachten. Tibo fragte sich, wer wohl voller Verachtung auf ihn herabsah.
«Nächster Fall!», rief der Gerichtsdiener. «Pitr Stoki.»
Ein kleiner Mann stolzierte nach vorn. Tibo betrachtete ihn. Er wirkte verschlagen, anmaßend und dreist – ein Mann, der beim Gehen die Schultern wiegte. Stoki nahm auf der AnklagebankPlatz, wobei er seinen Blick herausfordernd durch den Saal schweifen ließ und wiederholt die Nase hochzog und mit gekrümmtem Finger abwischte.
Tibo beugte sich hinunter. «Herr Stoki, Ihnen wird vorgeworfen, Ihre Frau angegriffen zu haben. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?»
Yemko Guillaume, der dickste Rechtsanwalt von ganz Dot, erhob sich. Tibo konnte seine Knie knacken hören, obwohl er am anderen Saalende saß. Guillaumes Bauch war so ausladend, dass er ihm als Lappen über die Hose hing, er hatte Brüste wie aus Wackelpeter und zwang Tibo, auf seinen haarumkränzten Bauchnabel zu starren, der aus einer Hemdlücke blinzelte. Tibo fühlte sich an den Jahrmarkt erinnert, wenn die dicken Bauern von den entlegensten Orten anreisten und die Schausteller zu betrügen versuchten, indem sie deren Attraktionen durch die Lücken im Zeltstoff betrachteten.
«Ich vertrete Herrn Stoki», sagte Guillaume. Seine Stimme
Weitere Kostenlose Bücher