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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Skolvig und jenen fernen Zeiten zurückreichte, als «Vilnus», «Utter» und «Skeg» noch keine Nachnamen trugen. Längst waren diese Männer im Bodensatz des Brunnens der Geschichte verschwunden, und sie existierten nur noch als Überreste zerbrochener Siegel auf einem Stückchen Pergament, das zusammen mit der Gründungsurkunde in einer Kiste weggeschlossen war.
    An allen Wänden und zwischen den bunten Fensterscheiben des Ratssaals hingen die Portraits der Bürgermeister von Dot   – Männer mit beeindruckendem Schnurrbart und vornehmen Gewändern aus grobem Tuch, die im schattigen Dunkel des teerigen Lackes verschwanden. In der Stille des leeren Saals saß Tibo eine Weile in seinem großen Ratsstuhl und suchte nach einem freien Platz an der gegenüberliegenden Wand. Dort, dachte er, dort werde ich hinpassen. Und einen kurzen Augenblick lang stellte er sich vor, wie die Schreibtische aller Stadträte hinausgeräumt und die Kerzenleuchter entzündet wären und Gäste den Saal füllen würden, um auf sein Wohl zu trinken, bevor er den Ratssaal zum endgültig letzten Mal verließ. Und dann? Er hätte endlich Zeit, das Gartentor zu reparieren, aber dann? Was dann?
    Tibo stellte sich vor, wie er, pünktlich zur morgendlichen Kaffeestunde, am Stock zum Rathaus tattern und sich in den Gesellschaftsraum der Stadträte schleichen würde. Er stellte sich vor, wie er den neuen Bürgermeister weise beraten würde, und auch die neue Generation von Stadträten, die wöchentlich unter seinem Portrait zusammenkamen und die mit Geschichten vom großen Tibo Krovic und seinen Taten für Dot aufgewachsen waren. Er sah ihr beschämtes Lächeln. Er sah sie verstohlen auf die Uhr blicken und dringende Termine erfinden in dem Versuch, sich ihm höflich zu entziehen.«Aber kommen Sie jederzeit wieder», sagten sie. «Tibo Krovic ist uns immer willkommen. Nein. Nein, bleiben Sie, und trinken Sie Ihren Kaffee aus. Nehmen Sie noch einen Keks.» Und dann würde die Saaltür höflich ins Schloss fallen, und er wäre allein.
    «Bis dahin werden noch Jahre vergehen», sagte Tibo sich traurig, als er wieder auf den Korridor hinaustrat und ein zweites Mal an der Belagerung von Dot vorbeikam. Trotz des Blutes und des Pulverdampfes kam ihm Anker Skolvig plötzlich selbstgefällig vor. «Du hattest es einfach», sagte Tibo und öffnete die Tür zu seinem Büro.
    Als er hereinkam, saß Agathe bereits über der eingegangenen Post, und er lächelte ihr zu, als er an ihr vorbei in sein Büro ging. Er war machtlos dagegen. Er hatte es versucht, aber alles an ihr faszinierte ihn – wie sie einen Umschlag hielt, ihr geschickter, flinker Umgang mit dem Brieföffner, die anmutige Geste, mit der sie alle «besonderen» Briefmarken in das alte Marmeladenglas auf ihrem Schreibtisch fallen ließ, die Zungenspitze in ihrem Mundwinkel, das Zu- und Aufklappen ihrer Augenlider, ihr Geruch, ihr Lächeln. «Einen schönen guten Morgen, Herr Bürgermeister», sagte Agathe.
    «Hallo, Frau Stopak. Es tut mir leid, ich habe mich verspätet.» Und der dicke städtische Teppich wurde unter Tibos Füßen weich wie Melasse, als er die wenigen letzten Schritte zu seinem Schreibtisch zurücklegte. Sie beobachtete ihn. Sie wusste Bescheid. Sie konnte ihm seine Gefühle ansehen. Er ahnte es. Aber als Tibo sich auf der Schwelle noch einmal umdrehte, hatte Agathe sich auf ihrem Platz nicht einmal bewegt. Sie schlitzte den letzten Briefumschlag auf, zog den zusammengefalteten Brief heraus und legte ihn auf den Stapel. Ohnesich umzudrehen, sagte sie: «Ich bringe Ihnen gleich die Post. Möchten Sie noch einen Kaffee?»
    Tibo drapierte seine Jacke über einen Holzkleiderbügel, den er an den Kleiderständer in der Zimmerecke hängte. «Danke, ich habe eben einen getrunken», antwortete er. Dann fügte er hinzu: «Noch einen? Woher wissen Sie?»
    Er griff in die Innentasche seiner Jacke, zog einen Füller heraus und setzte sich an den Schreibtisch. Ich schaute vom anderen Ende des Zimmers auf ihn herab wie ein mütterlicher, aufs Stadtwappen montierter Weihnachtsmann.
    «Danke für die Hilfe», knurrte er mich böse an.
    Agathe hatte ihn gehört. «Was haben Sie gesagt?»
    «Nichts. Ich führe Selbstgespräche», sagte Tibo. «Das ist das Alter.»
    «Manchmal die einzige Möglichkeit, sich vernünftig zu unterhalten.» Sie reichte ihm die Briefe. «Der Bürgermeister von Umlaut hat geschrieben. Es geht um die Feierlichkeiten zum dortigen Gründungsjubiläum. Er hat eine Delegation

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