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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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einfach den ganzen Tag hier herumsitzen. Ich käme mir vor wie ein Gauner.»
    «Dann gehen Sie doch spazieren», schlug Agathe vor. «Inspizieren Sie die Stadt. Irgendjemand wird schon ein Anliegen an Sie herantragen – ein Schlagloch oder ein Leck im Abwasserkanal.»
    Tibo war wenig begeistert. «Was werden Sie tun?»
    «Ich habe immer genug Arbeit», antwortete Agathe fest.
    «Kann ich Ihnen helfen?»
    «Nein, können Sie nicht. Gehen Sie spazieren.» Und damit wackelte sie hinaus.
    Tibo betrachtete seine Schreibtischunterlage. Die Rundungen, die er vorhin gemalt hatte, waren gerade noch zu erkennen. Er fuhr sie wieder mit der Bleistiftspitze nach, erweckte sie zu neuem Leben, aber dann straffte er sich und strich sie energisch aus.
    Der gute Bürgermeister Krovic ließ den Kaffee auf dem Schreibtisch stehen und verließ sein Arbeitszimmer. «Ich gehe auf Inspektion», sagte er.
    Agathe rief ihm nach: «Falls irgendwer nach Ihnen fragt, werde ich sagen, dass Sie einen Spaziergang machen!»
    Tibo stieg die kühle, grüne Marmortreppe hinunter und betrat den gleißend hellen Rathausplatz. Er spielte kurz mit dem Gedanken, den Buchladen an der Ecke aufzusuchen, verwarf ihn aber wieder. Es wäre albern – sein ganzes Haus war voller Bücher. Falls er etwas bräuchte, würde es ihm Frau Handkevon der Stadtbücherei nur zu gern bestellen. Der Buchladen fiel also weg. Er verließ den Platz und bog am Ampersand nach links ab. Er nickte zwei alten Männern zu, die im kühlen Schatten auf einer Bank saßen und Pfeife rauchten. «Schöner Tag», sagte er.
    «Ja, schöner Tag, Bürgermeister Krovic», sagten sie. Mehr nicht.
    Eine Dame schob einen riesigen, mit Einkäufen beladenen Kinderwagen vorbei, an dessen Seite ein schmollendes Kleinkind festgeklammert hing. Ein Blinder mit dunkelblauer Brille lief seinem hechelnden Hund hinterher. Dann blieb der Mann stehen, klemmte sich den Blindenstock unter den Arm und zog eine Wasserflasche aus dem Mantel, deren Inhalt er dahin goss, wo er die Hundeschnauze vermutete. Ein Teil des Wassers erreichte das Ziel.
    Als er in die Georgenstraße einbog, machte sich Tibo eine gedankliche Notiz. Er würde den städtischen Ingenieur bitten müssen, die Tiernäpfe an den öffentlichen Trinkbrunnen zu reparieren. Das war eine schöne Aufgabe. Die Georgenstraße. Rechts ab zum Palazz Kinema. Nein, das wäre unangebracht – nicht während eines Inspektionsganges. Links ab zum Museumsplatz. Ja. Die neue Ausstellung. Ideal. Genau die Art von Sache, die ein Bürgermeister mit zu viel Zeit in Augenschein nehmen sollte.
    Zwischen den Säulen des Museums hingen lange Stoffbahnen, verziert mit einem geflügelten Löwen und der Aufschrift
     
    DIE PRACHT VENEDIGS
     
    Die Stoffbanner blähten sich im Wind wie die Segel einer Galeone. Tibo lief darunter hindurch und näherte sich den Glastüren, vor denen zwei adrette Pförtner in Uniformen mit Messingknöpfen auf Besucher warteten.
    «Guten Morgen, Bürgermeister Krovic», sagten sie und öffneten schwungvoll die Türen.
    «Guten Morgen», erwiderte Tibo. «Ich dachte mir, ich schaue mal vorbei.»
    Sie nickten, lächelten unterwürfig und rissen sich zusammen, um sich nicht die Hände zu reiben.
    Ist das wirklich eine Arbeit für erwachsene Männer?, dachte Tibo bei sich. Den ganzen Tag herumzustehen, den Leuten die Tür aufzuhalten und sich zu verbeugen? Das kann nicht gut sein. Mein lieber Schwan, wahrscheinlich haben die beiden viele Kollegen und arbeiten schichtweise, dazu die Vertretungen für Urlaube und Krankentage, ganze Armeen von Männern in albernen Jacken, die auf Kosten der Stadt Türen aufhalten. Das muss überprüft werden.
    Die Glastüren schlossen sich lautlos wie Sargdeckel, und Tibo atmete die museale Stille ein. Er liebte das Museum. Er hatte es schon früher geliebt, als seine Mutter noch mit ihm auf dem Oberdeck der Tram hergefahren war. Tibo erinnerte sich an den Schrumpfkopf aus dem Amazonas, dessen dunkle Lederhaut und die mit Lederschnüren zusammengenähten Lippen, an die friedlich geschlossenen Augen; das ganze Ding war nicht größer als eine Faust gewesen, und nur die schwarzen, an schimmernde Krähenfedern erinnernden Haare bewiesen, dass es sich hier um einen Mann gehandelt hatte, um einen erfolglosen Krieger, um einen Hasardeur mit glückloser Hand, aber immerhin um einen Hasardeur, einen Kämpfer. Und der ausgestopfte Löwe – nun ja, die ausgestopfte Löwenhälfte,das Vorderteil, um genau zu sein   –, der sich aus

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