Die Liebeslotterie
näherte, um seine Morgenzeitung zu kaufen, sah er das leuchtend gelbe Plakat am Aufsteller:
KROVIC UND ZAPF – KRIEG!
Eine nasse Ecke markierte die Stelle, wo ein Hund gegen das Plakat gepinkelt hatte. Drei Männer in der Trambahnwarteschlange lasen den Artikel – einer hielt die Zeitung aufgeschlagen, zwei weitere standen über seine Schulter gebeugt. Die Version wich von der des Vorabends nur durch ein paar eingefügte Zitate von Bürgermeister Krovic ab, der sich standhaft weigerte, einen Kommentar abzugeben. In der Mitte der letzten Spalte, direkt unter dem Wort «WÜRDEVOLL», das ohne Vorwarnung mitten in einem Satz auftauchte, sollte Bürgermeister Krovic angeblich gesagt haben:
«Ich habe keine Ahnung, wie ein privater Briefwechsel zwischen mir und dem Umlauter Bürgermeister Zapf an die Öffentlichkeit gelangen konnte, es sei denn als gezielter Versuch, Unfrieden zwischen unseren Städten zu stiften. Darum weigere ich mich, die Bürger von Umlautmit einer Stellungnahme zu dieser Frage zusätzlich anzustacheln.»
Die anderen Fahrgäste begrüßten Tibo mit wohlwollendem Nicken. «Denen haben Sie’s gezeigt, Herr Bürgermeister», sagte eine untersetzte Dame mit Filzhut, wobei sie mit einem dicken Finger auf die Zeitung tippte und lachte.
«Diese dreisten Umlauter schon wieder», sagte der Schaffner. Er läutete die Glocke.
Der gute Tibo Krovic kämpfte gegen die Versuchung an, sich schuldig zu fühlen. Sollte er sich schuldig fühlen? Weswegen? Hatte er die Bürger von Dot betrogen? Wohl kaum. Für die Bürger von Dot waren die Umlauter ein wahrer Segen. Die städtische Fußballmannschaft legte sich mehr ins Zeug, die Schüler lernten fleißiger für den provinzweiten Buchstabierwettbewerb, die Gärtner vom Städtebauamt jäteten die Beete in den Parks noch sorgfältiger, und die Blaskapelle der Feuerwehr polierte ihre Helme auf noch höheren Hochglanz. «Das nennen Sie ‹auf Hochglanz poliert›?», pflegte der Kapellmeister zu sagen, «mein Lieber, wir sind hier nicht in Umlaut!» Und bevor er sonntagsnachmittags in Begleitung seiner Kollegen die Konzertmuschel im Kopernikuspark betrat, polierte der Mann am Glockenspiel das Blech seines Helms, bis es ganz dünn war. Es tat ihnen nur gut. Tibo schluckte das schlechte Gewissen hinunter.
Als er in seinem Büro ankam, fand er einen leeren Schreibtisch vor. Keine Aktenmappen mit städtischen Dokumenten, die durchgeblättert werden wollten, keine Briefe von verärgerten Grundsteuerzahlern, die beschwichtigt werden wollten, keine Pläne für ein neues Wasserwerk, keine Anfragen vom Amt für Beförderung für neue Trambahnwaggons. Nichts.
«Was steht heute im Terminkalender?», fragte er Agathe.
«Um fünf Uhr müssen Sie ein Paar trauen. Die Rothaarige aus dem Fährbüro. Offensichtlich hat sie es eilig. Ohne Brimborium. Sie will die Sache schnell hinter sich bringen. Abgesehen davon – nichts.» Sie ließ das Buch zuklappen und lächelte Tibo an.
«Nichts?»
«Nicht ein einziger Termin.»
«Keine Briefe?»
«Da war einer, von einer Schülerin, die an einem Schulprojekt zum Thema ‹Alltag im Rathaus› arbeitet. Sie möchte herkommen und uns besuchen.»
«Nun ja, dann sollten wir zurückschreiben und sie einladen», sagte Tibo.
«Schon geschehen. Ihre Antwort ist immer dieselbe. Seit ich hier arbeite, haben Sie noch niemanden abgewiesen.»
Tibo seufzte. «Dann war es das wohl. Nichts.»
«Überhaupt nichts. Ich werde Ihnen einen Kaffee holen.»
Tibo nahm einen Stift heraus und klopfte damit auf die Schreibtischplatte. Dann hielt er inne – wie viele Stifte hatte er auf diese Art schon zerbrochen? Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, blies die Backen auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bis es ihm vom Kopf abstand, nur, um es wieder plattzudrücken. Schon langweilte er sich. Er fing an, die Ecke seiner Schreibtischunterlage vollzukritzeln, willkürliche, rundliche Formen, die sich zu einer drallen, lächelnden Frau zusammenschlossen, die zufälligerweise an Agathe erinnerte und – zufälligerweise – völlig nackt war. Als Agathe mit dem Kaffee zurückkam, überkritzelte Tibo die Zeichnung fieberhaft.
«Langeweile?», fragte sie.
«Und wie. Ich bin der Bürgermeister. Ich sollte etwas Wichtiges zu tun haben.»
Sie lachte. «Bald fangen die Ferien an. Die Leute werden ruhiger. Es liegt nicht an Ihnen. Sie können sich für den Stadtrat ja keine Aufgaben ausdenken.»
«Trotzdem. Ich kann doch nicht
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