Die Liebeslotterie
aufhielt. «Unerschütterlich» war ein schönes Wort – nicht so hübsch wie «Ellenbogen» vielleicht, aber von ähnlich klarem, weinrotem, vollmundigem Geschmack.
Agathe sah fragend zu ihm auf.
«Nichts», sagte Tibo. «Verzeihung. Es ist bloß … nichts.»
Das Ladeninnere wirkte endlos, eine langgezogene, mit nüchtern gemustertem Teppich ausgelegte Schlucht, zu deren Seiten sich hohe Wände aus hölzernen Regalen und Schubladen erhoben, die Aufschriften wie «Socken blau» oder «Sockenschwarz» trugen und nach Größe durchnummeriert waren. Am hinteren Ende entdeckten Tibo und Agathe ihre Spiegelbilder, die Seite an Seite näher kamen. Plötzlich hatte das Bild etwas Erschreckendes, es wirkte verstörend hochzeitlich. Ein Mann und eine Frau, so dicht beieinander, so aufgeregt und gleichzeitig zufrieden, so unsicher und gleichzeitig entspannt. Sie sahen flüchtig in den Spiegel und wandten sich schnell ab, so als habe man sie bei etwas Verbotenem ertappt.
«Mein Herr, meine Dame.» Es war Kemenazic persönlich, er sah prächtig aus mit seinem strahlend weißen Hemd, dem scharlachrot aus der Brusttasche hervorblitzenden Einstecktuch und dem winzigen Stiefmütterchen, das sich kaum von dem nachtblauen Revers abhob. Dann huschte ein plötzliches Erkennen über sein Gesicht, und er brachte einen winzigen, vergoldeten Stuhl für Agathe, den er sanft gegen ihre Kniekehlen drückte, um sie zum Hinsetzen zu bewegen. «Ah, Bürgermeister Krovic. Wie entzückend, Sie bei Kupfer & Kemenazic begrüßen zu dürfen. Wie kann ich Ihnen dienen?»
«Ich hatte an einen Anzug gedacht.» Tibos Stimme klang piepsig und näselnd.
«Jawohl, der Herr.» Und wie ein Magier, der eine lebendige Schlange hervorzaubert, hielt Kemenazic plötzlich ein Maßband in der Hand. Es pfiff und peitschte um Tibo herum, bestimmte die Breite seiner Brust und seiner Schultern, die Länge der Arme, den Umfang der Taille und – «Hätte die Dame Interesse, sich dieses Buch mit Stoffproben anzusehen?» – die Schrittlänge.
Kemenazic zog einen kleinen, in Leder gebundenen Block aus seiner Innentasche und machte sich zügig Notizen. «Ichdenke, ich habe alles, Bürgermeister Krovic. Wenn Sie nun bitte den Stoff auswählen und in zwei Wochen wiederkommen würden, ist alles zur Anprobe bereit.»
Tibo gab sich geschlagen. «Ja», sagte er, «natürlich. In zwei Wochen.» Und nachdem er hastig zwei Stoffe aus dem Musterbuch ausgesucht hatte, drehte er sich zum Ausgang um.
«Aber bis dahin wird der Herr Bürgermeister sich mit etwas anderem behelfen müssen», warf Agathe ein. «Irgendetwas von der Stange. Da haben Sie doch etwas. In diesem Blau.» Sie klappte das Buch mit den Proben auf und zeigte auf einen weichen Stoff mit Fischgrätmuster.
«Von der Stange?» Kemenazic zögerte. «Ich werde nachschauen, Frau Krovic.» Und damit zog er sich zurück.
Sie fanden sich allein wieder, Tibo und Agathe, und er sah sie erleichtert an und sagte: «Danke.»
Agathe lächelte verständnisvoll.
«Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll», sagte Tibo.
«Darauf hat er sich verlassen. Du darfst dich von den Leuten nicht herumschubsen lassen.»
«Beim Polizeichef oder dem Stadtschreiber geht es mir nicht so, es passiert immer nur» – Tibos Stimme verblasste zu einem zittrigen Flüstern – «beim Schneider.»
Agathe schaute auf ihre Zehen. «Ist es dir aufgefallen?»
«Ja. Er hat ‹Frau Krovic› zu dir gesagt.»
«Wir sollten das richtigstellen.»
«Ja, wirklich», stimmte Tibo zu, aber in seiner Stimme schwebte etwas Jungenhaftes, Zögerndes mit, so als wolle er sagen: «Ach bitte, fünf Minuten noch!»
Sie sahen einander an und versuchten, nicht zu kichern, bis Herr Kemenazic zurückkam, im Gefolge einen Jüngling, der unter der Last von ziemlich vielen Anzügen fast zusammenbrachund dessen Anblick sie wenigstens vorübergehend zur Ordnung rief.
Herr Kemenazic riss den Vorhang der Umkleidekabine beiseite, dass die Vorhangringe nur so klapperten. «Wenn Sie die bitte anprobieren würden, Bürgermeister Krovic.»
Kemenazic verfügte über die Gabe – sonst nur zu beobachten bei Müttern, wirklich guten Lehrern und den boshaften Butlern in den Inspektor-Voythek-Filmen –, selbst die einfachste, harmloseste Bitte wie eine Drohung klingen zu lassen, bei der einem das Blut in den Adern gefror. Er konnte mit zwingender Überzeugung sprechen, und als er sagte: «Wenn Sie die bitte anprobieren würden, Bürgermeister Krovic», klang er wie ein
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