Die Liebeslotterie
können.»
Dem gab es nichts hinzuzufügen. Tibo ging.
Nach einem letzten, warmherzigen, peinlichen und lautstarken Wortwechsel mit Frau Knutson – «Kommen Sie bald wieder, Bürgermeister Krovic. Es ist immer ein Vergnügen, Sie hier begrüßen zu dürfen, Bürgermeister Krovic!» – stand Tibo wieder auf der Gasse, Agathes Buch in der Hand.
Frau Knutson war so freundlich, so begeistert, so stolz auf ihn, und dennoch murmelte Tibo, sobald die Ladentür mit einem Klingeln hinter ihm zugefallen war: «Sie weiß nicht, ob ich Zucker nehme – sie hat keine Ahnung.» Kopfschüttelnd lief der gute Bürgermeister Krovic durch die Gasse auf den Kommerzplatz zu.
Sein erster Impuls war, zum Kaufhaus Braun zu gehen und die Anzüge zu kaufen, aber nach kurzem Überlegen entschied er sich für Kupfer & Kemenazic. Die waren vielleicht ein bisschen teurer, der Laden war kleiner und bot weniger Auswahl, aber dort würde er auf nur wenige andere Kunden treffen, dort könnte er in Ruhe anprobieren, ohne dass eine Herde üppiger Matronen seiner ansichtig wurde, aus der Cafeteria gerauscht kam, um sich phlegmatisch Kuchenkrümel vom Busen zu zupfen, eine halbe Stunde um ihn herumzustehen und durch Nicken und Lächeln und geheimnisvolles Schnalzen wortlos Ratschläge und Modetipps zu erteilen. Bei Kupfer &Kemenazic ging es vielleicht nicht unbedingt privat zu, aber wenigstens würde die Anprobe nicht zu einer Zirkusvorstellung ausarten. Und das war Tibo wichtig.
Auf dem Weg zum Kommerzplatz wechselte Tibo das Buch von einer Hand in die andere, um das von seinen Handflächen feuchte, zerknitterte Paket an der Luft trocknen zu lassen. Immer schon hatte Tibo Krovic sich vor dem Kleiderkaufen gefürchtet – selbst als kleinen Jungen hatte es ihn fertiggemacht, sehen zu müssen, wie seine Mutter die letzten Pfennige zusammenkratzte, um ihm eine neue Hose zu kaufen, oder wie sie den ganzen Abend geseufzt hatte, weil am nächsten Tag ein Ausflug ins Schuhgeschäft anstand. Die Schuldgefühle waren erdrückend. Er war ein gebranntes Kind, und bis heute bescherte ihm die Aussicht, den Herrenausstatter aufsuchen zu müssen, eine trockene Kehle und feuchte Hände. Nur zu bereitwillig hätte Bürgermeister Krovic seinen letzten Pfennig ausgegeben, um Agathe lächeln zu sehen, und er konnte nicht an dem Akkordeonmann auf dem Rathausplatz vorbeigehen, ohne eine Münze in dessen Hut zu werfen – aber vor den hedonistischen Freuden des Hemdenkaufs schreckte er doch zurück, und das Vorhaben, gleich zwei Anzüge zu erwerben, nahm in Tibos Augen das Ausmaß einer babylonischen Orgie an. Aber wie alles andere in seinem Leben, sah man einmal von den letzten Tagen ab, war auch der Besuch bei Kupfer & Kemenazic geplant und durchdacht.
Es war Teil eines Systems, eines Plans, den Tibo für sich erdacht hatte, um ohne große Erschütterungen durchs Leben zu kommen. Wenn also eine geplante Aktion einmal angefangen hatte, konnte er sie nicht mehr ändern oder stoppen. Tibo Krovic war so dazu gezwungen, bei Kupfer & Kemenaziczwei neue Anzüge zu kaufen, wie die Tramlinie 17 gezwungen war, durch die Kirchenallee zu fahren.
Und ebenso abrupt, wie eine Tram der Linie 17 gebremst hätte, hätte Frau Agathe Stopak auf den Gleisen gestanden, bremste Tibo an der Ecke zur Albrechtstraße ab. Sie war da.
Agathe war früh am Morgen in die Stadt gefahren und hatte sich die Zeit damit vertrieben, sich die Nase am Schaufenster der Zoohandlung «Pelz und Federn» platt zu drücken und den Welpen in den mit Holzspänen ausgestreuten Kisten Küsschen zuzuwerfen. Agathe beneidete sie. Sie beneidete sie um ihre Unschuld, ihre Anspruchslosigkeit, ihre Zufriedenheit, ihren ungebrochenen Liebeswillen. Es müsste, dachte sie bei sich, wundervoll sein, als Welpe zu leben. Man wartete einfach auf die erstbeste Person, die einen mitnahm und die man begleiten und lieben konnte. Für die Frauen von Dot sah die Sache komplizierter aus – selbst, wenn sie nicht mehr verlangten als ein Welpe. Traurig berührte Agathe die Schaufensterscheibe mit den Fingerspitzen, dann wandte sie sich ab.
Als Tibo sie entdeckte, schaute sie sich gerade abwechselnd ihre eigenen Schuhe und ein paar Schuhe in der Auslage des Kooperativ-Schuhladens an; Tibo wollte auf sie zustürzen, sie bei der Hand nehmen, ins Geschäft zerren und ihr alles kaufen. Er wollte jeden einzelnen Schuh in dem Laden für sie kaufen. Er wollte sie auf eine der roten Lederbänke setzen, sein Scheckheft zücken, eine
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