Die Liebeslotterie
sie nicht noch ein Stück begleiten können, was?» Tibo stellte sich vor, wie es gewesen wäre, Agathe zu begleiten, einmal durch die ganze Stadt, von einem Ende ans andere, ihren Körper eng an seinen geschmiegt, bis sie irgendwann, in der Dämmerung, die freie Natur erreicht, ihre Mäntel unter einem Baum ausgebreitet und sich hingesetzt hätten. «Aber nein, oh nein! Das kann nicht dein Ernst sein, du blödiger Bürgermeister Tibo Krovic! Nicht, nachdem der Anwalt Guillaume dich gesehen, dich durchschaut hat! Oh nein, das ist alles andere als in Ordnung, du blödiger Idiot!» Klappernd ließ Tibo das Eisen ins Feuer fallen und ging zu Bett.
Aber er konnte nicht einschlafen. Später – es war zu dunkel, um den Wecker zu erkennen – schlug Tibo die Bettdecke zurück, stand auf und zog sich an. Er zog den neuen schwarzen Anzug an und die polierten Schuhe, die unter seinem Bett gewartet hatten, und trat auf die dunkle Straße hinaus. Die Trambahnen fuhren nicht mehr. Kein Mensch war unterwegs, und Tibo machte sich auf in die Stadt. Dann aber entdeckte er die Lichter eines Taxis, das auf ihn zukam. Tibo hätte das Taxi gern gerufen, aber es kam nur sehr, sehr langsam vorwärts und neigte sich so stark zur Seite, dass es fast den Asphalt berührte. Tibo wurde vor Scham und Angst beinahe übel. Er wusste genau, dass Yemko Guillaume in diesem Taxi saß, und er wusste auch, wenn Yemko ihn einmal entdeckt hätte, würde er die Tür aufstoßen und Tibo zu sich hereinziehen, und dann würde das Taxi ewig und im Schneckentempo weiterfahren, während Yemko ihn auslachte, bis er tot wäre. Tibo fing zu rennen an, er rannte und rannte, aber jedes Mal, wenn er sich mit gesenktem Kopf an einen Laternenpfahl lehnte, um nach Luft zu schnappen, und der Schweiß ihm von der heißen Stirn rann und zwischen seinen polierten Schuhen zischend auf dem Gehsteig landete, kam das Taxi um die Ecke gebogen und zwang Tibo, weiterzurennen, obwohl er zu Tode erschöpft war und seine Lungen brannten.
Wenn ich doch nur einem Polizisten begegnen würde, dachte Tibo. Warum geht hier niemand Streife? Wozu bezahle ich eigentlich Steuern? Ich bin der Bürgermeister dieser blödigen Stadt, verdammt!
Also lief er weiter und weiter, an den neun Haltestellen vorbei bis in die Innenstadt, das schreckliche, schwarze, schiefe Taxi ständig im Rücken, so nah manchmal, dass Tibo meinte, das Gummi der Reifen an seinen Fersen zu spüren.Und die ganze Zeit keine Menschenseele – außer der armen Sarah, die im Fenster von Dots zweitbester Schlachterei saß, ein mit «Krovic» beschriftetes Würstchenpaket in der Hand hielt und sich die Augen ausweinte. Zwischen zwei Schluchzern sagte sie: «Hier sind Ihre Würstchen, Bürgermeister Krovic.»
«Vielen Dank, Sarah», sagte Tibo. «Warum weinen Sie?»
«Es sind Zwiebelwürstchen, und Sie kommen so spät.»
Tibo entschuldigte sich und versprach, beim nächsten Mal zu bezahlen, nun müsse er aber wirklich weiter, das Taxi käme gleich, er hoffe auf ihr Verständnis, und gerade, als er einen Blick zurückwarf, tauchten die schielenden Taxischeinwerfer an der Ecke auf.
Tibo rannte weiter und bog in die Kirchenallee ein, und beim Laufen riss er das Wurstpaket auf, das Sarah ihm gegeben hatte, und warf die Würstchen nacheinander auf die Straße. Das Taxi musste natürlich Schlenker fahren, um den Würsten auszuweichen, besser gesagt, zog es langsame, geneigte Halbkreise. Aber während Tibo sich seinem Ziel näherte, stellte er erfreut fest, dass er die Würstchen auch direkt vor die Autoreifen werfen und das Taxi zwingen konnte, durch Pfützen aus Fett und Fleisch zu schlingern. Folglich war es kilometerweit abgeschlagen, als Tibo den Eingang zur Kathedrale erreichte und hineinstürzte, und selbst, als er die Tür zum Glockenturm öffnete, war es noch nicht zu sehen. Tibo fing an, die Treppe hochzusteigen. «Du erwischst mich nicht», sagte er, und schon nach wenigen Schritten bog er um eine Ecke und fand sich auf dem Turm wieder.
Und da stand Frau Agathe Stopak, sie war in die offizielle Robe des Bürgermeisters gehüllt und sagte: «Das macht dir hoffentlich nichts aus?» Im selben Moment ließ sie die Robefallen und stand vor ihm, rosig und vollbusig und splitternackt bis auf die Strümpfe.
«Zieh nicht so ein Gesicht», sagte sie, nahm Anlauf und sprang auf die größte Glocke, die im Glockenturm der Kathedrale hing; sie umklammerte sie mit beiden Beinen und beugte sich vor und zurück, um Schwung zu holen
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